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Suizid
Mehr als 10.000 Selbsttötungen im Jahr
Durch Selbsttötung sterben in Deutschland mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Wir sprachen mit einem Experten über Suizidprävention und Hilfsangebote für Angehörige.
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Was erhöht die Gefahr eines Suizids? Und wie kann die Gesellschaft das beeinflussen?
Einige Antworten hat Georg Fiedler. Der Diplom-Psychologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Uniklinikum in Hamburg und Experte für Suizidprävention.
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WDR: Wie viele Menschen in Deutschland nehmen sich das Leben?
Georg Fiedler: Im Jahr 2014 - das sind die aktuellsten Zahlen, die uns vorliegen - starben in Deutschland 10.209 Menschen durch Suizid. Weit über 100.000 Menschen begingen einen Suizidversuch.
Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Betroffen von Suizid sind aber viel mehr Menschen: Wir gehen davon aus, dass circa 60.000 Angehörige ebenfalls Hilfe benötigen. Denn Suizid hat eine Besonderheit: Er hinterlässt Schuldgefühle.
Das Gefühl, versagt zu haben, nicht genug getan zu haben. Die Hinterbliebenen meinen dann häufig, es nicht wert zu sein, dass man für sie weiterlebt. Die Trauerarbeit ist oft wesentlich langwieriger, als wenn ein Angehöriger an einer Krankheit wie Krebs stirbt.
WDR: Wie werden die Hinterbliebenen betreut?
Fiedler: Die Situation ist noch sehr unbefriedigend. Es gibt zwar Selbsthilfegruppen wie Agus und kirchliche Einrichtungen wie die Telefonseelsorge, aber im Gesundheitswesen selbst gibt es zu wenig Angebote. Als Angehöriger ist man ja nicht im engeren Sinne psychisch krank, aber eben doch in einer extremen Notsituation. Da sind Wartezeiten auf einen Therapeutenplatz von sechs bis neun Monaten wenig hilfreich.
WDR: Welche Rolle spielt die Gesellschaft?
Fiedler: Das ist schwer zu sagen, und man kann Suizid in der Regel nicht auf ein Phänomen zurückführen.
Aspekte, die die Suizidrate ansteigen lassen können, sind Arbeitslosigkeit, schlechte medizinische Versorgung, die gute Verfügbarkeit von Mitteln, die zu Suizid führen.
Generell liegt häufig eine Verlustangst zugrunde. Und auch unangemessene Medienberichterstattung hat Einfluss auf die Suizidrate. Nach dem Tod des Torhüters Robert Enke stieg die Zahl der Menschen, die sich auf Bahngleisen das Leben genommen haben, deutlich an und ist bis heute höher als vor seinem Tod.
Auch die Demografie spielt eine Rolle: Das Suizidrisiko steigt mit dem Lebensalter. Warum genau die Zahlen wieder steigen, wissen wir noch nicht. Die Debatte über die Sterbehilfe könnte ebenfalls eine Rolle spielen.
Generell wissen wir, dass die Suizidrate sinkt, wenn wir das Thema enttabuisieren - man also offen über seine Probleme spricht.
Es hilft auch, wenn Personen, die einem möglicherweise Betroffenen nahestehen, das Thema ansprechen. Gesprächsangebote generell sind sehr wichtig, außerdem niedrigschwellige Hilfsangebote - am Telefon, im Internet, dabei muss die Anonymität gewahrt bleiben.
Auch die Behandlungsmöglichkeiten für Risikogruppen spielen eine Rolle. Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und Süchtige begehen häufiger einen Suizid, da sind Präventionsprogramme besonders wichtig.
WDR: Wie hat sich die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahren entwickelt?
Fiedler: Seit den 1980er-Jahren ist die Zahl deutlich zurückgegangen. Vermutlich, weil sich die psychosoziale Versorgung in der Zeit deutlich verbessert hat.
Anfang der 1980er gab es bessere Medikamente, mehr Beratungsangebote und bessere Kliniken. Allerdings ist in den letzten Jahren, seit 2007, wieder ein leichter Anstieg zu erkennen.
WDR: Wie ist die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich?
Fiedler: Bei der Suizidrate stehen wir ganz gut dar, international im unteren Drittel.
In Europa ist die Suizidrate vor allem in den baltischen Ländern und in Russland hoch - dort spielt Alkoholsucht eine große Rolle beim Suizid.
In fast allen Ländern nehmen sich mehr Männer das Leben als Frauen. Eine Ausnahme ist China - wir vermuten, dass das mit dem dortigen Frauenbild zu tun hat.
Signifikante Unterschiede gibt es auch in den USA. Bei weißen Amerikanern ist es das bekannte Muster: Je älter, desto mehr Menschen begehen einen Suizid.
Bei schwarzen Amerikanern ist das anders, da gibt es im Alter keinen Anstieg. Vermutlich spielen auch da kulturelle Faktoren eine Rolle - etwa starke familiäre Bindungen, die die Suizidgefährdung - wir sprechen dann von Suizidalität - senken.
WDR: Welche Hilfsangebote sind sinnvoll oder müssten ausgebaut werden?
Fiedler: Das Suizidrisiko ist bei allen psychiatrischen Erkrankungen erhöht.
Derzeit gehen wir davon aus, dass 40 bis 60 Prozent derer, die Suizid begehen, eine depressive Erkrankung hatten. Und natürlich müssen diese Erkrankungen behandelt werden.
Aber die Suizidalität ist eben ein zusätzlicher Aspekt, und die Behandlung gehört in professionelle Hände. Denn der Partner beispielsweise ist eben kein Therapeut.
Was genau hilft, ist individuell sehr unterschiedlich. Es gibt zwar keine wirklich verlässlichen Zahlen darüber, aber Hinweise, dass niedrigschwellige Angebote besonders gut angenommen werden: Anonym, autonom, wo man sich jederzeit auch zurückziehen kann wie bei der Telefonberatung und Angeboten im Internet.
Wünschenswert wäre aber auch hier, dass es im Gesundheitssystem mehr unkomplizierte Hilfsangebote gäbe - eine psychiatrische Klinik ist nicht für jeden die richtige Anlaufstelle. Da ist also noch erheblicher Bedarf.