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Interview
Was sagt unser Musikgeschmack über uns aus?
Die Elite hört Klassik, Büroangestellte seichte Popmusik und Intellektuelle avantgardistischen Jazz. Sagt der Musikgeschmack tatsächlich etwas über den sozialen Status aus, oder haben sich die Geschmacksgrenzen durch die Digitalisierung aufgelöst?
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Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt widmet sich der Musikwissenschaftler Dr. Timo Fischinger der Entwicklung des Musikgeschmacks.
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WDR: Einige Menschen lieben anspruchsvollen Jazz, andere können vom Schlager nicht genug kriegen. Warum?
Timo Fischinger: Der Musikgeschmack entwickelt sich und ist nicht per se vorgeburtlich vorgegeben. Das klingt einfach, ist aber wichtig zu erwähnen, weil es zeigt, dass es letztendlich ein Produkt des Kulturkreises ist, in dem ich aufwachse.
Ein Produkt der Interaktion mit Eltern, anderen Kindern und eben der Peergroup: Wenn ich in der Schule zu einer bestimmten Gruppe dazugehören möchte, ist es naheliegend, sich vorzustellen, dass jemand eben auch anfängt, diese Musik zu hören und dann gut zu finden.
WDR: Wenn der Musikgeschmack sehr stark in der Kindheit und Jugend geprägt wird, verändert er sich im Erwachsenenalter überhaupt noch?
Fischinger: Dazu gibt es in der Tat weniger Studien als zu den Bereichen des Jugendalters. Und deshalb ist dazu wenig bekannt.
Aber ich bin mir sicher, dass sich – wenn auch nicht so lebhaft und zügig – auch im Erwachsenenalter etwas tut. Wenn man einer bestimmten Musik überdrüssig geworden ist oder wirklich durch Freunde den Mut hatte, in eine Oper zu gehen, die man vorher nicht besucht hat.
WDR: Songs aus der eigenen Jugendzeit können Jahre später aber auch nerven, oder?
Fischinger: Ich kann das nachvollziehen, manche Interpreten liegen dann brach, man möchte sie nicht mehr hören.
Trotzdem gibt es eine Studie, die zeigt, dass man die Musik, die populär war, als man selbst Anfang 20 war, im Laufe des Lebens immer positiv bewertet.
WDR: Und was ist mit Hits, die immer wieder im Radio laufen und einem ständig überall begegnen: Nach einer gewissen Zeit können die auch ganz schön anstrengend werden. Hat das auch was mit dem Musikgeschmack zu tun?
Fischinger: Das hängt mit der Entwicklung des Musikgeschmacks zusammen: Je mehr man sich bestimmter Musik aussetzt, desto positiver bewertet man diese Musik.
Aber es ist wie mit anderen Dingen auch, wenn man zu viel davon hat, tut es irgendwann weh. Also es gibt dieses Phänomen, aber das ist noch nicht besonders erforscht.
WDR: Das heißt auch: Warum ich manche Musikrichtungen oder Songs nicht mag, kann man gar nicht so genau sagen?
Fischinger: Abgelehnte Musik kann nicht nur an der Musik selbst liegen, sondern hat auch mit der Situation und der Vorerfahrung zu tun.
Es gibt bestimmt viele Leute, die in einem Fragebogen niemals zugeben würden, dass sie Helene Fischer gerne hören. Aber nach ein wenig Alkohol und bei einer guten Party oder Karneval ist man dann doch gewillt, Musik von Helene Fischer zu hören.
Es ist so ein bisschen wie die andere Seite der Medaille, es sind ein wenig die gleichen Mechanismen wie bei Musik, die ich mag. Sprich, sie gefällt mir, weil sie eine bestimmte klangliche Ästhetik hat, weil meine Freunde eben diese Musik favorisieren und ich durch den Einfluss anderer denke: 'Ach wenn die das mögen, finde ich das auch gut’.
WDR: Unser Umfeld beeinflusst unseren Musikgeschmack – ist der denn so sehr beeinflussbar, dass sich Eltern vornehmen könnten "Mein Kind wird Klassikhörer:in"?
Fischinger: Wenn man guten Kontakt zu seinen Kindern hat, kann man da durchaus Einfluss nehmen. Musikpädagogisch gesprochen würde ich empfehlen, dass Kinder viele unterschiedliche Musikarten kennenlernen. Um auch für sich einen Weg zu finden, die Musik herauszusuchen, die ihnen gefällt.
WDR: Trotzdem scheint es heute viel akzeptierter, Popmusik von Taylor Swift zu hören und gleichzeitig auch mal in die Oper zu gehen.
Fischinger: Es wird hier und dort sicher noch mentale Hürden geben. Aber es gibt auch immer Leute, die in einem Fragebogen angeben, sowohl Beethoven als auch Bowie zu hören. Diese Form des "ich höre fast alles“ nennt man "Alleshörer“ oder "Allesfresser“. Das galt eine Zeit lang für gut situiert aufwachsende Jugendliche. Aber eine Studie unseres Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik hat gezeigt, dass Musikwissenschaftsstudierende einen viel breiteren Musikgeschmack haben als Nichtmusikwissenschaftsstudierende.
Bei dieser Studie war die Idee, herauszufinden, welchen Geschmack Musikwissenschaftsstudierende entwickeln im Vergleich zu Nichtmusikwissenschaftsstudierenden. Dabei waren die sozialen Verhältnisse bei beiden Stichproben gleich, es gab also keine Schichtunterschiede. Es hat sich aber gezeigt, dass die Musikwissenschaftsstudierenden einen viel breiteren Musikgeschmack aufgezeigt haben. Im Vergleich zu Leuten, die Medizin oder BWL studieren. Ganz unabhängig von der sozialen Schicht. Das wäre ein Argument dafür, dass die Allesfresser-Hypothese sich nicht mehr auf Schichtzugehörigkeit bezieht.
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