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Scheinbehandlung
So funktioniert der Placebo-Effekt
Scheinbehandlungen können Symptome lindern. Wie das funktioniert, verstehen wir immer besser – und können damit auch wirksame Therapien optimieren.
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Artikel Abschnitt: Was ist der Placebo-Effekt?
Was ist der Placebo-Effekt?
In klinischen Studien kommen Placebos eigentlich zum Einsatz, um den Effekt einer Substanz mit der reinen Placebo-Wirkung zu vergleichen. Überraschenderweise bessern sich die Symptome auch in der Gruppe, die ein eigentlich wirkungsloses Mittel erhält. Wie kann das sein?
Zunächst: Nicht jede Verbesserung von Symptomen beruht auf dem Placebo-Effekt. So verschwinden die meisten Beschwerden auch ohne äußeres Zutun nach gewisser Zeit wieder. Das erklärt bereits einen Teil der Verbesserung, die Studienteilnehmer in der Placebo-Gruppe zeigen. Auch melden sich die meisten Menschen dann für eine klinische Studie, wenn es ihnen besonders schlecht geht. Rein statistisch ist es wahrscheinlich, dass es nach so einem Tiefpunkt wieder bergauf geht.
Die Wirkung basiert auf Erwartung und Vorerfahrung
Den aktiven Teil des Placebo-Effekts nennen Experten auch "Placebo-Antwort". Dabei ist die Erwartung des Patienten, dass die Behandlung helfen wird, ein wichtiger Faktor. Die wird zum Beispiel durch ein vertrauensvolles Verhältnis zum Arzt gefördert. Auch die Erfolge von Mitpatienten können dazu beitragen, dass man Hoffnung schöpft. Der heilsame Effekt entsteht aber nicht wie häufig angenommen nur durch die bewusste Zuversicht. Genauso entscheidend ist die Erfahrung des Organismus, der gelernt hat, dass Medikamente eine bestimmte positive Wirkung entfalten. Dieser Lernmechanismus heißt "klassische Konditionierung" und wurde durch die Experimente am sogenannten pawlowschen Hund bekannt.
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Der pawlowsche Hund
Um das Phänomen näher zu ergründen, entwarf er ein Experiment. Er servierte Hunden wiederholt eine Schüssel Futter zusammen mit einem bestimmten Sinnesreiz, etwa dem Läuten einer Glocke. Dabei fing er mit einem Schlauch den Speichel der Tiere auf. Als Pawlow nach einigen Durchgängen die Glocke ertönen ließ, ohne die Hunde zu füttern, setzte der Speichelfluss trotzdem ein.
Jeder beliebige Sinnesreiz konnte so mit Futter verknüpft werden und ließ daraufhin den Speichel strömen. Die Erkenntnis, die Pawlow aus dieser Beobachtung ableitete, war ein Durchbruch für die Psychologie: Körperliche Reaktionen sind durch Erfahrung erlernbar, lassen sich also konditionieren.
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Zu welchen Teilen Zuversicht und klassische Konditionierung zusammenwirken, ist schwer zu sagen. "Bei den meisten Patienten ist wohl die Konditionierung entscheidend, etwa bei Störungen, die das Immun- und Hormonsystem betreffen", erklärt der Placebo-Forscher Fabrizio Benedetti. Er ist Professor für Neurowissenschaften an der Universität Turin. Bei Menschen mit Schmerzen, Angstzuständen oder Depressionen würde aber schon allein die positive Erwartung mitunter starke Placebo-Reaktionen hervorrufen. Doch auch dort könnten körperliche Lerneffekte eine Rolle spielen. "Bewusste und unbewusste Faktoren lassen sich nicht immer sauber trennen."
Placebos wirken auch ohne Täuschung
Weil unbewusste neurobiologische Prozesse mit am Werk sind, wirken Scheinmedikamente auch ohne Täuschung. Das belegte Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School mit seinem Team 2010 als einer der Ersten. Die Mediziner teilten Patienten mit Reizdarmsyndrom in zwei Gruppen ein. Die eine erhielt keine Behandlung, die andere nahm drei Wochen lang zweimal täglich ein Placebo und wusste das auch. Das Wort "Placebo" stand sogar auf der Pillendose. Trotzdem verbesserten sich die Symptome signifikant stärker als in der Kontrollgruppe.
Artikel Abschnitt: Was passiert dabei im Körper?
Was passiert dabei im Körper?
Positive Erwartungen zeigen sich in hoffnungsvollen Gedanken und angenehmen Gefühlen wie Freude und Erleichterung. Passend dazu konnten Neurowissenschaftler feststellen, dass beim Placebo-Effekt zum einen Hirnregionen aktiviert werden, die mit Denkprozessen zu tun haben (Präfrontaler Cortex) sowie Areale, die der Verarbeitung von Emotion dienen (Amygdala).
Am Ende dieses Schaltkreises steht der Hypothalamus, eine Schaltzentrale im unteren Zwischenhirn, die daraufhin unterschiedliche Prozesse im Körper anstößt. Diese Veränderungen im Körper unterscheiden sich je nachdem, gegen welche Symptome sich der Placebo-Effekt richtet.
Placebos aktivieren das körpereigene Schmerzabwehrsystem
So lindert positive Erwartung etwa Schmerzen, indem durch sie die Ausschüttung von Endorphinen, also körpereigenen Opioiden, im Gehirn angeregt wird. Die sind ein wichtiger Teil unserer eingebauten Schmerzhemmung. Verabreicht man Patienten den Opioid-Antagonisten Naloxon, hilft ein Placebo nicht mehr gegen den Schmerz. Das konnte ein Team um den Neurowissenschaftler Jon Levine schon 1978 an Menschen zeigen, die gerade eine Zahn-OP hinter sich hatten.
Naloxon besetzt die Rezeptoren, an die Opioide normalerweise andocken, und verhindert so, dass diese ihre schmerzstillende Wirkung entfalten. Placebos können außerdem bereits die Weiterleitung von Schmerzreizen entlang bestimmter Bahnen im Rückenmark unterdrücken, wie man heute weiß.
Placebos können die Wirkung bestimmter Medikamente imitieren
Besonders gut untersucht ist der Placebo-Effekt auf das Immunsystem. Scheinbehandlungen können hier erstaunlich spezifische Reaktionen hervorrufen. Das liegt weniger an der positiven Erwartung des Patienten, der an Allergien oder an einer Autoimmunerkrankung leidet, als an seinen Vorerfahrungen mit echten Medikamenten. Die klassische Konditionierung ist hier der entscheidende Mechanismus. Gibt man einem Patienten ein Mittel, das das Immunsystem unterdrückt, immer mit einer wirkstofflosen Pille, löst irgendwann allein das Placebo die gewünschte Wirkung aus – so wie Pawlows Hund allein beim Klang der Glocke zu sabbern beginnt.
Der Reiz – in dem Fall das vertraute Aussehen der Pille, aktiviert bestimmte Hirnstrukturen, die über den Hypothalamus in das vegetative Nervensystem eingreifen, das wiederum das Immunsystem beeinflusst – auf ganz ähnliche Weise wie der echte Wirkstoff. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Milz. Nervenfasern leiten das Signal aus dem Gehirn an das Organ weiter, woraufhin die Milz den Botenstoff Noradrenalin ausschüttet. Der bindet an Rezeptoren der T-Zellen unseres Immunsystems, was deren Aktivität unterdrückt: Die überschießende Immunreaktion lässt nach. Entfernt man bei Ratten ein Stück des Milznervs, bleibt bei ihnen die Heilwirkung des Placebos aus.
Artikel Abschnitt: Wann ist der Placebo-Effekt besonders stark?
Wann ist der Placebo-Effekt besonders stark?
Spritzen, Scheinoperationen, bei denen die Haut nur oberflächlich eingeschnitten wird, und Scheinakupunktur, bei der die Nadeln die Haut nicht wirklich durchstechen, entfalten oft einen noch größeren Placebo-Effekt als Pillen. Hier ist wieder die Erwartung wichtig: Invasive Behandlungsmethoden halten die meisten Menschen nämlich für wirkungsvoller. Auch der Status des Behandlers spielt eine Rolle: Von Ärzten verabreicht wirken Placebos stärker als von Pflegern.
Artikel Abschnitt: Wer ist besonders empfänglich?
Wer ist besonders empfänglich?
Außerdem führen bestimmte Genvarianten offenbar außerdem dazu, dass manche Menschen stärker auf Placebos reagieren als andere. Leichtere Symptome lassen sich zudem in der Regel besser beeinflussen als schwere. Sind bestimmte Hirnfunktionen stark beeinträchtigt – etwa bei Menschen mit Alzheimer-Demenz – bleibt der Placebo-Effekt mitunter ganz aus.
Artikel Abschnitt: Warum gibt es den Placebo-Effekt?
Warum gibt es den Placebo-Effekt?
Eine andere Hypothese zum Ursprung des Placebo-Effekts stützt sich darauf, dass Heilungsprozesse den Körper Energie kosten. Für den Organismus unserer Vorfahren war es demnach von Vorteil, genau abzuwägen, wann es sich zum Beispiel lohnt, mit starkem Fieber – das viel Energie zieht – gegen einen Infekt anzukämpfen. In der freien Natur konzentrierte sich der Körper optimalerweise erst dann auf die Genesung, wenn genug Nahrung verfügbar war und keine Gefahr drohte. So könnten positive Zukunftserwartungen schon früh den Startschuss für unsere Selbstheilungskräfte gegeben haben. Nach dem Motto: Alles gut, du kannst dich jetzt in Ruhe um die Reparatur kümmern.
Artikel Abschnitt: Wie kann man ihn nutzen?
Wie kann man ihn nutzen?
Außerdem lässt sich die klassische Konditionierung nutzen, um die Behandlung verschiedener Krankheiten zu verbessern. Paart man ein wirksames Medikament mehrmals mit einem Placebo, geht die Wirkung der Medizin irgendwann auf dieses über – wenn auch nur zum Teil und nur vorübergehend. Mit Placebos kann man so die Wirkung von echter Arznei verstärken und deren Dosis verringern. Etwa am Beispiel von Immunsuppressiva, die bei Autoimmunerkrankungen oder nach Organtransplantationen eingenommen werden, ist das bereits gut untersucht.
"Die Wirkung des Medikaments wird maximiert, ohne dass die Nebenwirkungen zunehmen", sagt Manfred Schedlowski, Professor für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Essen. Dass nicht auch die Nebenwirkungen des Medikaments auf den konditionierten Reiz übertragen werden, haben Forscher überprüft. "Die toxischen Nebenwirkungen entstehen größtenteils direkt durch den Wirkstoff selbst, der etwa die Niere schädigt. Da sie nicht durch Funktionen des Nerven- oder Immunsystems vermittelt werden, werden sie auch nicht mitkonditioniert."
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Danke für euren interessanten Beitrag. Aber seid ihr sicher, dass die MILZ den Botenstoff Noradrenalin ausschüttet (im Abschnitt „Placebos können die Wirkung bestimmter Medikamente imitieren“)? Meines Wissens wird Noradrenalin im Mark der Nebenniere sowie im Nervensystem gebildet. In der Milz werden u.a. alte Erythrozyten/Thrombozyten abgebaut. Für die Immunabwehr spielt die… Weiterlesen »
Danke für den Hinweis. Wir schauen uns das an.