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Tiermedizin
Darum gibt es den Placebo-Effekt bei Tieren
Können Tiere an Heilung glauben? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem wirken Placebos auch bei ihnen.
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Artikel Abschnitt: Was ist der Placebo-Effekt?
Was ist der Placebo-Effekt?
Einige Phänomene, die im Zusammenhang mit Placebos auftreten, sind keine echten Placebo-Effekte. Zum Beispiel der natürliche Krankheitsverlauf. Wenn eine Krankheit ganz natürlich ausheilt, darf dies nicht als Placebo-Effekt gewertet werden. Bei einer normalen Erkältung ist beispielsweise zu erwarten, dass sie auch ohne medizinische Behandlung nach einigen Tagen besser wird.
Wenn unerwünschte schädliche Wirkungen auftreten, spricht man von einem Nocebo-Effekt.
Nach heutigem Forschungsstand funktioniert der Placebo-Effekt sowohl über bewusste als auch über unbewusste Wirkmechanismen. Aktuell werden hauptsächlich zwei Mechanismen diskutiert. Einerseits wirkt ein Placebo über eine bewusste positive Erwartungshaltung des Patienten, also den Glauben und die Hoffnung, dass seine Krankheit besser wird. Andererseits kann der Placebo-Effekt das Resultat einer unbewussten Lernerfahrung, einer sogenannten Konditionierung, sein. Der Effekt durch Konditionierung spielt bei Tieren eine große Rolle. Es ist noch unklar, inwieweit Tiere überhaupt positive Erwartungen bilden können. Für Menschen bedeutet der unbewusste Placebo-Mechanismus, dass Placebos grundsätzlich auch wirken können, wenn ein Patient weiß, dass er nur ein Placebo und kein echtes Medikament erhält.
Artikel Abschnitt: Warum funktionieren Placebos bei Tieren?
Warum funktionieren Placebos bei Tieren?
Aber: Tatsächlich kommen viele Studien zu dem Ergebnis, dass Placebos auch bei Tieren wirken. Und zwar über einen unbewussten Mechanismus, einen Lerneffekt oder eine sogenannte Konditionierung. Dieser Mechanismus ist sogar ziemlich gut untersucht. Unter Konditionierung versteht man das Erlernen von Reflexen durch wiederholte Koppelung von Reizen. Das Modell der klassischen Konditionierung wurde erstmals in den 20er-Jahren durch Iwan Petrowitsch Pawlow beschrieben. Er stellte fest, dass Hunde zu speicheln begannen, sobald er ihnen Futter zeigte.
Diese Reaktion ist Hunden angeboren und läuft automatisch ab. Pawlow arrangierte einen Versuch, indem er mit einer Glocke klingelte, bevor er das Futter verabreichte. Der Hund lernte dabei unbewusst, genauso auf den Glockenton zu reagieren wie auf das Futter. Nach einigen Durchgängen begann der Hund schon zu speicheln, wenn nur die Glocke ertönte – ohne dass Futter zu sehen oder riechen war. Der Hund hatte unbewusst gelernt, auf den Glockenton, einen ursprünglich neutralen Reiz, mit einem bestimmten Reflex, dem Speicheln, zu reagieren.
Bei Tieren wirken Placebos über Konditionierung
Nach dem Pawlow‘schen Modell der klassischen Konditionierung kommt auch der Placebo-Effekt bei Tieren zustande. Ein Beispiel: Ein Hund bekommt mit einer Spritze ein echtes, wirksames Medikament verabreicht und seine Schmerzen werden weniger. Wenn er dann später eine Placebo-Spritze mit Kochsalzlösung bekommt, kann diese auch wirken, weil der Hund gelernt hat, dass ihm Spritzen helfen können. Das ist dann eine konditionierte, also erlernte Reaktion.
Placebos oder Nocebos konnten bei Tieren in zahlreichen Versuchen messbare Körperreaktionen auslösen. Beispielsweise erhielten Hunde über mehrere Tage Morphin-Spritzen. Morphin bewirkt, dass Hunde erbrechen. Als die Hunde nach einigen Tagen nur Kochsalzlösung gespritzt bekamen, mussten sie ebenfalls erbrechen – ein klassischer Nocebo-Effekt.
Menschlicher Kontakt wirkt wie ein Placebo
Mehrere Untersuchungen mit Hunden, Pferden, Kühen oder Kaninchen kamen zu dem Ergebnis, dass sich vor allem menschliche Berührungen positiv auf die Tiergesundheit auswirken. Zum Beispiel sank die Herzfrequenz von Hunden, die gestreichelt wurden, signifikant. Gleichzeitig verbesserten sich der Blutdruck und der Blutfluss. Kühe, die sanfte menschliche Zuwendung erhielten, steigerten ihre Milchproduktion. Die genauen Mechanismen dahinter sind noch nicht genau erforscht. Da der Mensch-Tier-Kontakt in der Tiermedizin eine große Rolle spielt, kann die Tierärztin oder der Tierarzt diesen positiven Effekt bei jeder Behandlung nutzen.
Artikel Abschnitt: Bei welchen Tieren ist der Placebo-Effekt nachgewiesen?
Bei welchen Tieren ist der Placebo-Effekt nachgewiesen?
Nach der Konditionierung bewirkte die Placebo-Spritze nicht nur die gleichen klinischen Symptome wie Insulin: Der Placebo-Effekt war auch physiologisch messbar und die Gabe der Placebo-Spritze hatte den Blutzuckerspiegel verändert. In gleicher Weise können Placebos physiologisch messbar auf das Immunsystem wirken und Immunzellen verändern.
Die Tierversuche haben gezeigt, dass nicht nur positive Placebo-Effekte konditioniert werden können, sondern auch negative Effekte, also Nocebo-Effekte. Außerdem kommt der konditionierte Placebo-Effekt nicht nur durch einen speziellen Reiz, wie eine Spritze oder Tablette, zustande. Viele Versuchstiere zeigten die entsprechenden Placebo- oder Nocebo-Effekte bereits, wenn sie nur den Versuchsraum betraten. Ein Placebo wirkt, wie der Placebo-Forscher Fabrizio Benedetti betont, durch den Gesamtkontext einer Behandlung.
Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen diskutieren sogar darüber, ob es placeboähnliche Effekte auch bei weniger komplexen Organismen wie Fliegen und Würmern gibt. Zum Beispiel leben bestimmte Fadenwürmer und Fruchtfliegen länger, wenn sie auf Diät gesetzt werden. Dieser lebensverlängernde Effekt erlischt nicht nur, wenn sie wieder zu fressen beginnen, sondern auch dann, wenn sie etwas Essbares riechen. In diesem Fall ist der Geruch von Nahrung für Fliegen und Würmer also eine Art Placebo.
Artikel Abschnitt: Was ist der Caregiver-Placebo-Effekt?
Was ist der Caregiver-Placebo-Effekt?
Nach objektiv messbaren Kriterien geht es dem Tier nämlich häufig gar nicht besser. Dieses Phänomen wird als “Caregiver-Placebo-Effekt“ oder “placebo-effect-by-proxy“ bezeichnet. Tierbesitzer und Tierärzte haben bestimmte Erwartungen in Bezug auf die Therapie: Sie wollen, dass eine Behandlung wirkt und dass es dem Tier besser geht. Tiere können nicht sagen, ob ihnen etwas wehtut. Tierärzte und Tierärztinnen verlassen sich häufig auf ihre eigenen Beobachtungen oder die Beschreibungen des Tierbesitzers, um einzuschätzen, wie gut es einem Tier geht. Doch diese Bewertungen sind häufig rein subjektiv.
Der Tierbesitzer denkt nur, es würde dem Tier besser gehen
Im Rahmen einer Studie mit Hunden mit einer Gelenkerkrankung wurden ein Teil der Gruppe mit einem Schmerzmedikament und der andere Teil mit einem Placebo behandelt. Nach mehreren Behandlungen haben sowohl Tierärzte als auch Tierbesitzer den Lahmheitsgrad der Hunde subjektiv bewertet. Gleichzeitig wurde die Lahmheit mittels instrumenteller Ganganalyse beurteilt. Es stellte sich bei 40 Prozent der Fälle aus der Placebo-Gruppe ein Caregiver-Placebo-Effekt heraus: Sowohl Tierbesitzer als auch Tierärzte bewerteten die Lahmheit als besser, obwohl die instrumentelle Ganganalyse keine Verbesserung beweisen konnte. Ganz ähnlich wurde bei Katzen mit degenerativen Gelenkerkrankungen ein Caregiver-Placebo-Effekt in bis zu 70 Prozent der Fälle beobachtet.
Den Caregiver-Placebo-Effekt gibt es auch bei Kindern. Er beschreibt das Phänomen, dass sich Eltern, Familienmitglieder oder Ärzte bei der Placebo-Behandlung eines Kindes vor allem selbst besser fühlen. Wenn Kinder schon für sich selbst sprechen können, bringt der Caregiver-Placebo-Effekt weniger Schwierigkeiten mit sich als bei Tieren. Er wird sogar überwiegend positiv bewertet, da der Caregiver-Placebo-Effekt den echten Placebo-Effekt beim Kind verstärken kann, etwa durch motivierende Worte oder besonders intensive Fürsorge. Diesen positiven Aspekt kann der Caregiver-Placebo-Effekt auch bei Tieren haben, etwa wenn ein Tierbesitzer von einer Behandlung überzeugt ist und sich daher intensiver um ein krankes Tier kümmert.
Letztlich ist es bei Tieren immer wichtig, zwischen einem echten Placebo-Effekt und einem Caregiver-Placebo-Effekt zu unterscheiden.
Artikel Abschnitt: Warum ist der Placebo-Effekt in der Tiermedizin nützlich?
Warum ist der Placebo-Effekt in der Tiermedizin nützlich?
Das Phänomen des Caregiver-Placebo-Effekts könnte auch die steigende Beliebtheit von Alternativtherapien mit zweifelhafter Wirkung in der Tiermedizin begründen. Solche Therapien, die irrtümlich als wirksam eingeschätzt werden, werden auch als Pseudo-Placebo bezeichnet. So ist zum Beispiel die Wirksamkeit von Homöopathie auch bei Tieren umstritten: Es gibt dazu zwar einige Studien, aber unterschiedliche Ergebnisse. Eine Metaanalyse von mehreren Studien zur Wirksamkeit von Homöopathie bei Nutztieren kam zu dem Ergebnis, dass überwiegend keine ausreichende therapeutische Wirksamkeit von homöopathischen Mitteln nachgewiesen werden konnte. Um die Wirksamkeit von Homöopathie bei Tieren zu beweisen, wären weitere randomisierte placebokontrollierte Doppelblindstudien (RCTs = randomized controlled trials) notwendig.
In der Tiermedizin braucht es objektive Methoden
In der Humanmedizin werden RCTs für jedes neue Medikament durchgeführt. In der Tiermedizin werden RCTs viel seltener durchgeführt, da die finanziellen Mittel für die Entwicklung von Tierarzneimitteln viel geringer sind als in der Humanmedizin. Dabei wären RCTs dringend notwendig, um die Wirksamkeit von Tierarzneimitteln und Behandlungsmethoden zu überprüfen.
Wer zur Behandlung eines kranken Tieres ein Placebo einsetzen will, sollte es sich gut überlegen. Eine Behandlung mit Placebos ist nur dann möglich, wenn keine wirksamere Therapiemethode zur Verfügung steht. Wie häufig Tierärztinnen und Tierärzte bewusst Placebos verschreiben, um Tierbesitzer zu beruhigen, deren Tiere nicht wirklich krank sind, wurde bisher nicht untersucht. Bei einer Erhebung unter Humanmedizinern gab der Großteil zu, manchmal Placebos zu verschreiben, ohne dass die Patienten und Patientinnen es wussten. Es kann kritisch hinterfragt werden, ob ein solcher Vertrauensmissbrauch vertretbar ist.
Das Wissen um den Caregiver-Placebo-Effekt verdeutlicht, dass ein Therapieerfolg bei Tieren nicht nur subjektiv bewertet werden kann. Tiere können nicht für sich selbst sprechen. Bei der Behandlung eines Tieres mit einem Placebo braucht es daher zwingend objektive Methoden, um festzustellen, ob die Therapie erfolgreich war.
Autorin: Johanna Leitenbacher
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Ich hatte ein Pferd mit wiederkehrender Bindehautentzündung. Antibiotikum hat nicht geholfen. Ich bin ein nüchterner Mensch und glaube nicht an globuli. Nur der Tierarzt war am Ende mit seinem Latein. Dann hatte ich die Tierheilpraktikerin im Ort gefragt. Euphrasia ausprobiert. Die halfen auch nicht. Dann kam sie nochmals und hat… Weiterlesen »