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Freundschaft und Beziehungen
Darum haben nicht alle Menschen in deinem Leben Platz
Unsere Beziehungsgeflechte folgen einem bestimmten Muster. Wie viele Kontakte wir tatsächlich pflegen können, liegt unter anderem am Aufbau unseres Gehirns.
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Artikel Abschnitt: Wie viele Freunde sind normal?
Wie viele Freunde sind normal?
Folgt man einem geläufigen Modell aus der Forschung, dann sieht die Verteilung etwa so aus:
- Etwa 10 bis 15 Menschen würden die meisten ihre Freunde nennen. Auf sie können wir in allen Lebenslagen zählen. Die Besetzung ändert sich im Laufe der Jahre, die Zahl bleibt aber überraschend stabil.
- Drei bis fünf davon sind unsere engsten Vertrauten: diejenigen, mit denen wir mindestens einmal die Woche Kontakt haben und denen wir unsere Sorgen und Geheimnisse anvertrauen – etwa der beste Freund oder die Schwester.
- Der Kreis der guten Bekannten, die wir etwa zu einem runden Geburtstag einladen würden, beläuft sich auf rund 50.
- Mit insgesamt 150 Menschen haben wir irgendeine soziale Beziehung, die auf Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung fußt – darunter Nachbarn und Kollegen.
- Alle anderen Kontakte ähneln eher lockeren Bekanntschaften und sind mit keinerlei Verpflichtungen verbunden, außer dass man sich vielleicht auf der Straße grüßt.
Diese Zahl der 150 Beziehungskontakte ging als "Dunbar-Zahl“ in die Wissenschaftsgeschichte ein, benannt nach ihrem Entdecker Robin Dunbar. Der britische Anthropologe fand in den 1990er-Jahren heraus, dass das Netz menschlicher Beziehungen einem bestimmten Muster folgt und maximal 150 Personen umspannt. Wie er darauf gekommen ist, dazu gleich mehr.
Manchen Volksgruppen begrenzen heute noch ihre Dörfer auf 150 Einwohner
Belege dafür finden sich über verschiedene Kulturen und Epochen hinweg. Soviel man heute weiß, rotteten sich schon Sippen von Jägern und Sammlern zu regionalen Gruppen von etwa 150 zusammen. Als die Menschen sesshaft wurden, bildeten sie jungsteinzeitliche Siedlungen mit 120 bis 150 Bewohnern. Eine der ältesten bekannten Volkszählungen – beauftragt von König Wilhelm dem Ersten im Jahr 1086 – zeigt, dass das durchschnittliche englische Dorf damals 150 Personen beherbergte.
Die Gemeinden der Hutterer, eine nordamerikanische Glaubensgemeinschaft ähnlich den Amisch, umfassen heute noch maximal 150 Personen. Übersteigt die Einwohnerzahl 150, gründen sie eine neue Gemeinde. In größeren Kommunen werden die Menschen zu Fremden, so ihre Befürchtung. Auch die Gruppengröße im Militär folgt diesem Aufbau – vom römischen Heer bis zu heutigen Armeen: In der Regel bilden drei Abteilungen von jeweils um die 15 Personen einen Zug von 40 bis 50 Soldaten und Soldatinnen. Drei Züge bilden eine 150 Personen starke Kompanie.
Neuere Studien dagegen kommen teils auf Höchstwerte von 200 bis 300 bedeutsamen sozialen Kontakten pro Kopf – also deutlich mehr als Dunbars 150. Auch wenn über die genaue Ziffer noch debattiert wird: Dass nur eine gewisse Zahl an Menschen Platz in unserem Leben hat, ist weitgehend anerkannt.
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Setzt uns das Gehirn ein Limit für Beziehungen?
Die Gehirngröße einer Spezies bestimmt die Größe ihrer sozialen Gruppen
Dunbar fand heraus, dass unser Beziehungsgeflecht sogar schon viel früher sein Maximum erreicht. Ursprünglich untersuchte er die sozialen Bande von Primaten. Dabei machte er eine spannende Entdeckung: Die Gruppengröße einer Art hängt mit deren Gehirngröße zusammen. Genauer gesagt war es der Neokortex, der evolutionär jüngste Teil der Großhirnrinde, der, wie es schien, mit der Komplexität der Affengesellschaften gewachsen war. Offenbar – so die Vermutung des Forschers – braucht es Grips, um mit Artgenossen zu interagieren, sich zu verbünden und sich an frühere Begegnungen zu erinnern.
Die Menge der Neuronen im Neokortex bestimmt demnach die Verarbeitungskapazität für soziale Information und begrenzt so die Anzahl der Kontakte, die ein einzelner Primat gleichzeitig aufrechterhalten kann. Wachsen Gruppen über das speziestypische Limit hinaus, zerfallen sie, weil die Tiere es nicht mehr schaffen, ihre Beziehungen zueinander zu koordinieren. Entsprechend der Größe ihres Neokortex haben zum Beispiel Schimpansen einen größeren Freundeskreis als Lemuren.
Als Dunbar den Menschen anhand der Maße seines Denkorgans in diesem Spektrum einordnete, landete er bei den berühmten 150 – eine Spitzenleistung im Tierreich. Der Mensch hat, im Vergleich zu allen Primaten, den größten Neokortex – und somit die größte Kapazität für viele Beziehungen.
Gerade die Vielfalt unserer Beziehungen fordert geistige Ressourcen
Mit unseren engsten Vertrauten pflegen wir einen ganz anderen Umgang als mit weitläufigen Bekannten. Das komplexe Netzwerk verschiedener Hirnregionen, das es uns ermöglicht, mit anderen zu interagieren, nennen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen das soziale Gehirn. Es besteht unter anderem aus dem dorsomedialen Präfrontalkortex und der temporoparietalen Übergangszone, die dafür sorgen, dass wir anderen eigene Gedanken, Gefühle und Absichten zuschreiben können. Diese Fähigkeit zur Mentalisierung entwickelt sich bei Kindern um das vierte Lebensjahr und bildet das Fundament unserer sozialen Spezies.
Teile des Temporalkortex helfen uns außerdem, Körperhaltung und Blickrichtung des Gegenübers zu erfassen. Bei der Verarbeitung von Emotionen im Miteinander spielt die Amygdala, ein Teil des limbischen Systems, eine entscheidende Rolle. 2011 zeigten Forschende um Kevin Bickart von der Boston University School of Medicine, dass Menschen mit einem relativ großen Freundeskreis im Schnitt über ein größeres Amygdala-Volumen verfügen.
Beziehungspflege kostet Zeit
Neben der Kapazität des sozialen Gehirns setzt auch schlicht die verfügbare Zeit dem Gemeinschaftssinn Grenzen. Denn: Beziehungspflege dauert. Gemessen an der Zeit, die Affen mit dem gegenseitigen Putzen und Lausen verbringen, käme Homo sapiens mit seinen bis zu 150 Gefährten zu nichts anderem mehr. Dunbar glaubt deshalb, dass an einem Punkt der menschlichen Evolution die sozialen Gruppen derart anwuchsen, dass es nötig wurde, Sprache zu entwickeln. Verbale Streicheleinheiten ließen sich schließlich an mehrere Kumpane gleichzeitig verteilen und ermöglichten nebenbei noch andere Tätigkeiten.
Trotz unserer Wortgewandtheit begrenzt auch heute noch die verfügbare Zeit unser soziales Universum. Sich ab und an zum Kaffee treffen, regelmäßig telefonieren und gemeinsame Ausflüge: Für all das findet sich nur begrenzt Platz in unserem Terminkalender.
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Warum haben manche Menschen viele Freunde, andere wenige?
Ein entscheidender Faktor ist die Persönlichkeit
Eine 2016 erschienene Studie, die den Charakter sowie den Freundeskreis von 525 Probanden analysierte, zeigt: Extravertierte sind nicht nur kontaktfreudiger, sondern scharen auch tatsächlich mehr Menschen um sich. Allerdings betraf das anders als in früheren Untersuchungen nur die Anzahl der engsten Vertrauten. Die Gesamtzahl der Freunde war bei Extravertierten und Introvertierten mit rund 15 interessanterweise gleich. Auch standen die geselligen Versuchspersonen ihren Freunden nicht näher als die stilleren. Die emotionale Verbundenheit mit ihrem Inner Circle war bei Introvertierten genauso groß.
Das Geschlecht scheint für den Umfang des sozialen Netzwerks eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zwar gibt es Hinweise, dass Frauen mehr enge Vertraute haben als Männer. Eine Auswertung von Umfragedaten von über 25.000 US-Amerikanerinnen und -Amerikanern ergab aber keinen nennenswerten Geschlechterunterschied in der Anzahl der Freunde.
Psychische Störungen können Sozialleben beeinträchtigen
Dass manche das Potenzial ihres sozialen Gehirns nicht ausschöpfen, kann auch an einer psychischen Erkrankung liegen, meint der Psychiater und Interaktionsforscher Leonhard Schilbach: "In unserer Ambulanz für Störungen der sozialen Interaktion stellen sich viele Menschen vor, die Schwierigkeiten haben, Kontakte zu knüpfen. Zu den Störungen, die die Verschaltung des sozialen Gehirns beeinflussen, gehört etwa die Depression.“
Artikel Abschnitt: Halten wir über Social Media Kontakte am Leben, die sonst verschwunden wären?
Halten wir über Social Media Kontakte am Leben, die sonst verschwunden wären?
Forschende um Bruno Gonçalves von der School of Informatics and Computing der University of Indiana analysierten 2011 etwa die Twitter-Aktivität von 1,7 Millionen Menschen. Dabei interessierte sie nicht die Zahl der Follower, sondern das Netz an Usern, die sich auf der Plattform tatsächlich aktiv austauschten. Beim Durchkämmen der Konversationen ergab sich ein Bild, das Dunbars Theorie bestätigte: Nutzer konnten maximal 100 bis 200 virtuelle Kontakte aufrechterhalten. Demnach wirkt die mentale Grenze offenbar auch online.
Aber: Soziale Medien könnten unser über Jahrtausende entwickeltes Beziehungsgeflecht trotzdem verändert haben.
Via Facebook, Instagram & Co. können wir leichter Kontakt zu alten Schulfreunden halten, ausgewanderte Bekannte auf den neusten Stand bringen und so unser soziales Netz insgesamt ausweiten. Anhand nationaler Umfragedaten aus den USA lässt sich belegen, dass der Freundeskreis erwachsener Amerikaner zwischen 2002 und 2007 leicht gewachsen ist. Dieser Trend war zwar auch unter Internetverweigerern erkennbar, eines fiel aber auf: Die meisten sozialen Beziehungen hatten diejenigen, die viel Zeit online verbrachten.
Mittlerweile hat Robin Dunbar selbst die Zahl der möglichen Kontakte auf 180 erhöht. Als Grund nennt er das Aufkommen von Social Media seit dem Beginn seiner Forschung in den 90er Jahren.
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Die Zahlen kommen mir alle utopisch hoch vor. Kann es sein, dass es da regionale/kulturelle Unterschiede gibt? Also z. B. eher weniger Freunde im „kalten Norden“ und sehr viele Kontakte in südlichen Ländern?
Wie absurd. Wir dürfen doch eigentlich ohnehin nur noch Brieffreundschaften haben, wenn wir nicht als potentielle Mörder gelten wollen, indem wir ohne triftigen Grund unser Haus verlassen.
Wer hat bitte 150-180 soziale Kontakte? Ich habe vielleicht 8 gute Freunde mit denen ich auch regelmäßig Kontakt habe. Mehr aber auch nicht!
dort steht doch auch Nachbarn oder Arbeitskollegen.