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Diskussion um Stickstoffdioxid
So fragwürdig ist die Stellungnahme der Lungenfachärzt:innen
Zwei Seiten Papier versetzen Deutschland in helle Aufregung. Wir haben uns die Stellungnahme der Lungenärzt:innen zu Stickstoffdioxid genauer angeschaut. Und auseinandergenommen.
Über das Video:
Vor allem geht es um die Frage, ob Stickstoffdioxid tatsächlich so gesundheitsschädlich ist wie bisher angenommen, oder nicht.
Hier erklären wir Absatz für Absatz, warum das Schreiben der Ärzt:innen wissenschaftlich so nicht haltbar ist.
Artikel Abschnitt: Was bedeuten die vorzeitigen Todesfälle?
Was bedeuten die vorzeitigen Todesfälle?
Aus der Stellungnahme:
"Nach Daten der WHO und der EU reduziert sich die Lebenserwartung in Deutschland durch die Luftverschmutzung um etwa zehn Monate. Nimmt man die aktuelle Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes zum NOx dazu, so erhöht sich die Zahl nochmals. Daraus sollen, auch von Wissenschaftlern und dem Umweltbundesamt, durch die Bevölkerungszahl und Lebensalter hochgerechnet, beim NOx 6.000-13.000 und beim Feinstaub 60.000-80.000 zusätzliche Sterbefälle im Jahr entstehen."
Richtig ist, dass die Interpretation dieser Zahlen immer wieder für Missverständnisse sorgt. Diese Zahlen sind nicht absolut zu sehen und sind nicht vergleichbar beispielsweise mit Zahlen zu Toten im Straßenverkehr. Sie bieten vielmehr eine Richtschnur, um unterschiedliche (Gesundheits-) Risiken miteinander zu vergleichen.
Michael Brauer, Professor an der School of Population and Public Health an der University of British Columbia/Kanada, fasst die wissenschaftliche Evidenz zur Luftverschmutzung so zusammen:
"a) An einem Tag mit höherer Luftverschmutzung sterben mehr Menschen im Vergleich zu Tagen mit niedrigerer Luftverschmutzung. b) Menschen, die in Städten mit höherer Luftverschmutzung leben, sterben früher als Menschen, die in Städten mit niedrigerer Luftverschmutzung leben – unter Berücksichtigung anderer Faktoren, die bekanntermaßen den Tod beeinflussen. c) In Stadtvierteln innerhalb derselben Stadt, die stärker belastet sind als andere Stadtteile sterben Menschen früher – unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren, die bei den Menschen in den Nachbarschaften unterschiedlich sein können. d) Vor allem haben wir auch Studien, die zeigen, dass die Sterblichkeitsraten sinken und Menschen länger leben, wenn die Luftverschmutzung reduziert wird – entweder durch eine Verordnung oder durch ein 'natürliches Experiment‘ wie eine wirtschaftliche Rezession und eine geringere Industrieproduktion oder einen Arbeitsstreik."
Artikel Abschnitt: Sind Stickoxide eine Todesursache?
Sind Stickoxide eine Todesursache?
Aus der Stellungnahme:
"Nun stirbt etwa die gleiche Anzahl an Menschen in Deutschland im Jahr an Zigarettenrauch bedingtem Lungenkrebs und COPD. Lungenärzte sehen in ihren Praxen und Kliniken diese Todesfälle an COPD und Lungenkrebs täglich; jedoch Tote durch Feinstaub und NOx , auch bei sorgfältiger Anamnese, nie. Bei der hohen Mortalität müsste das Phänomen zumindest als assoziativer Faktor bei den Lungenerkrankungen irgendwo auffallen."
Das ist eine irreführende Argumentation. Ja, Ärzt:innen sehen Tote durch Lungenkrebs und COPD, also chronisch obstruktive Lungenerkrankungen. Aber keine/r von diesen Patient:innen hat im Totenschein Nikotin oder Zigaretten als Todesursache. "Es gibt keinen diagnostischen Test für die ‚Tabakkrankheit‘ und keinen ‚Tod durch Tabak‘", betont Michael Brauer. "Die geschätzte Zahl der Todesfälle durch Rauchen wird auf Grundlage statistischer Zusammenhänge aus epidemiologischen Studien ermittelt, genau wie wir die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmutzung schätzen."
Artikel Abschnitt: Gibt es keinen kausalen Zusammenhang?
Gibt es keinen kausalen Zusammenhang?
Aus der Stellungnahme:
"Korrelation und Kausalität: Viele Studien zur Gefährdung von Luftverschmutzung begründen sich auf epidemiologische Daten mit ähnlichem Muster (meist Kohortenstudien). Es werden Regionen verglichen mit unterschiedlicher Staub- bzw. NOx Belastung. Man findet mehr oder weniger regelhaft eine sehr geringe Risikoerhöhung in staubbelasteten Gebieten, meistens nur um einige Prozent. Aus dieser Korrelation wird fälschlicherweise eine Kausalität suggeriert, obwohl es viel offensichtlichere Erklärungen für die Unterschiede gibt. Korrelationen dienen nur der Hypothesenbildung, sie sind nie konfirmatorisch."
Es stimmt, dass epidemiologische Studien nicht immer auf kausale Zusammenhänge hinweisen. Das können epidemiologische Studien auch an und für sich gar nicht, sie stellen in der Regel zunächst eine Korrelation her. Wenn sich dann die Hinweise auf eine Ursache-Wirkungs-Beziehung durch viele Studien mit ähnlichen Ergebnissen verdichten, gehen Forschende von einer Kausalität aus.
Es habe eine "enorme Zunahme der Evidenz gegeben, die die Kausalität der Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und negativen gesundheitlichen Folgen belege. Infolgedessen wird die Kausalität dieser Zusammenhänge heute sehr selten infrage gestellt und von allen akzeptiert, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. Die Evidenz für Feinstaub ist außergewöhnlich groß, aber geringer für Stickoxide", sagt Roy M. Harrison, Professor für Umweltmedizin an der University of Birmingham in Großbritannien.
Artikel Abschnitt: Wurden die Störfaktoren nicht berücksichtigt?
Wurden die Störfaktoren nicht berücksichtigt?
Aus der Stellungnahme:
"Störfaktoren (Confounder): Die Krankheitshäufigkeit und die Lebenserwartung werden durch zahlreiche Faktoren bestimmt, wie Rauchen, Alkoholkonsum, körperliche Bewegung, medizinische Betreuung, Einnahmezuverlässigkeit von Medikamenten usw. Alle diese Faktoren wirken meist hundertfach stärker als der Risikoerhöhung durch die Luftverschmutzung in den Kohortenstudien zuzuordnen ist. Zudem ist die Störgrößenverteilung zwischen den Gruppen oft sehr unterschiedlich. Ein sogenanntes Adjustieren der Einflüsse in den Studien durch Fragebögen ist deswegen wissenschaftsmethodologisch nicht zulässig.
Zudem können Lebensstil und Gesundheitsbewusstsein nicht erfasst werden, obwohl sie erheblich die Mortalität bestimmen. Es ist offensichtlich und auch durch Studien belegt, dass die Lebensart zwischen den unterschiedlich belasteten Regionen deutlich abweicht."
Für diese Behauptung liefert die Stellungnahme keine Belege. Richtig ist, dass es bei Gesundheitseffekten immer mehrere Ursachen geben kann.
Studien werden daher in unterschiedlichen Umgebungen, zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Vergleichsgruppen durchgeführt, um den Einfluss solcher Störfaktoren auszuschließen. Die Ergebnisse Hunderter Studien werden dann miteinander vergleichen und die Wissenschaftler:innen schauen ganz genau, wie plausibel die Ergebnisse sind. Insbesondere in neueren Studien seien diese Störfaktoren – etwa Bewegung und Ernährung – berücksichtigt worden.
"Es besteht ein hohes Maß an Sicherheit, dass Störfaktoren die beobachteten Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und Gesundheit nicht erklären“, sagt Roy Harrison.
Artikel Abschnitt: Warum gibt es keinen Schwellenwert?
Warum gibt es keinen Schwellenwert?
Aus der Stellungnahme:
"Schwellenwert und Toxizitätsmuster: Viele der epidemiologischen Studien zur Luftverschmutzung zeigen keinen Schwellenwert. Das wird in den Studien dahingehend interpretiert, dass es sich um eine besonders große Gefährdung handelt. Nun hat jedes Gift, auch das Stärkste, eine Schwellendosis. Es ist daher viel plausibler, dass alle diese Studien eine konstante Störgröße (Bias) messen, denn eine solche Störgröße hat meist keinen Schwellenwert.
Allein die unterschiedliche Lebensart der Menschen, die in staubbelasteten im Vergleich zu weniger staubbelasteten Gebieten wohnen, würde einen solchen fehlenden Schwellenwert zwanglos erklären, denn die Änderungen der Lebensweise verlaufen kontinuierlich. Die epidemiologischen Studien zeigen auch, dass Feinstaub und NOx zu mehr als zwei Dutzend voneinander sehr verschiedenen bunten Krankheitsbildern führen soll, die praktisch alle Fachgebiete der Medizin betreffen. Wenn nun aber die Luftverschmutzung so gefährlich wäre, so müsste sie ein typisches Vergiftungsmuster verursachen, wie es für jedes Gift mehr oder weniger typisch ist.
Das völlige Fehlen dieses Musters spricht gegen eine Gefährdung und für Störfaktoren. Zudem gibt es überhaupt keine plausiblen pathophysiologischen Hypothesen, wie die Luftverschmutzung diese vielen unterschiedlichsten Erkrankungen verursachen soll."
Ja, Luftverschmutzung kann die unterschiedlichsten Dinge auslösen. Und in der Regel wirken die Schadstoffe nicht direkt, sondern lösen Entzündungen im Körper aus, die dann zu gesundheitlichen Problemen führen können.
"Es ist also nicht die direkte Wirkung der Luftverschmutzung, die mehrere Organsysteme betrifft, sondern die Entzündung, die durch die Luftverschmutzung ausgelöst wird und zu den Auswirkungen führt, die über die Lunge hinausgehen. Das gleiche Muster besteht für Zigarettenrauch – es betrifft mehrere Organsysteme", so Michael Brauer.
Einen Schwellenwert für Luftverschmutzung gibt es nicht, weil die Empfindlichkeit zwischen Menschen stark variiert. Einzelne Menschen können einen Schwellenwert haben – aber der ist in der Bevölkerung unterschiedlich. Ein Mensch mit Asthma oder ein Kind, dessen Lunge noch nicht ausgereift ist, reagiert möglicherweise empfindlicher auf Luftschadstoffe als ein gesunder Erwachsener.
Luft ist zudem "kein einziger Stoff, sie ist eine Mischung aus Hunderten von verschiedenen Verbindungen, genau wie Zigarettenrauch. Das klassische Giftargument ist also nicht anwendbar", erklärt Professor Brauer.
Artikel Abschnitt: Müssten Raucher sofort tot umfallen?
Müssten Raucher sofort tot umfallen?
Aus der Stellungnahme:
"Falsifikation: Das stärkste Argument gegen die extrem einseitige Auswertung der Studien ist jedoch eine Besonderheit, die nur beim Feinstaub und NOx vorliegt. Normalerweise müsste man zur Absicherung eines Grenzwertbereiches eine Expositionsstudie am Menschen durchführen mit höheren und niedrigeren Dosen. Das ist ethisch jedoch nicht vertretbar. Beim Feinstaub und NOx ist die Situation anders, denn die Raucher Inhalieren freiwillig außerordentlich hohe Dosen, so dass diese quasi freiwillig an einer riesigen Expositionsstudie teilnehmen.
Die Konzentration an Feinstaub im Hauptstrom des Zigarettenrauches erreicht tatsächlich 100-500 g/m³ und ist damit bis zur 1 Million Mal größer als der Grenzwert. Beim NOx werden bis zu 1g/m³ erreicht, wobei der NO-Anteil überwiegt. Aus Depositionsstudien kann man die inhalierte Dosis der Raucher berechnen und mit der Dosis der Gesunden vergleichen, die permanent Feinstaub oder NOx im Grenzwertbereich einatmen würden. Dabei erreichen Raucher (eine Packung/Tag angenommen) in weniger als zwei Monaten die Feinstaubdosis, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher im Leben einatmen würde. Beim NOx sind die Unterschiede ähnlich, wenn auch etwas geringer. Hinzu kommt noch, dass der Rauch einer Zigarette um mehrere Größenordnungen toxischer ist, als die Luftverschmutzung.
Rauchen verkürzt die Lebenserwartung etwa um zehn Jahre, wenn über 40-50 Jahre eine Packung/Tag geraucht wird. Würde die Luftverschmutzung ein solches Risiko darstellen und entsprechend hohe Todeszahlen generieren, so müssten die meisten Raucher nach wenigen Monaten alle versterben, was offensichtlich nicht der Fall ist."
Der Vergleich zum Rauchen hinkt. Zum einen, weil das Expositionsmuster ein völlig anderes ist: Es stimmt zwar, dass die Schadstoffbelastung beim Rauchen extrem hoch ist. Es handelt sich hier aber um eine kurzzeitige Belastung. Der Körper hat also immer wieder Gelegenheit, sich von dieser Belastung mit Stickoxiden zu erholen und zu regenerieren. Und: Es raucht nicht jeder, aber jeder ist der Luft – und der Luftverschmutzung – ausgesetzt.
Zudem werden die Todesfälle durch Rauchen genauso aus epidemiologischen Studien abgeleitet wie Tote durch Luftverschmutzung.
Artikel Abschnitt: Braucht es eine Neubewertung?
Braucht es eine Neubewertung?
Aus der Stellungnahme:
"Die hier vorgestellten Kritikpunkte mögen überraschend sein, angesichts der großen Informationsflut über die Gefährlichkeit von Feinstaub und NOx , in den Publikationsorganen, den Medien und in staatlichen Verlautbarungen. Alle diese Informationen stammen im Wesentlichen aus der gleichen Quelle und beziehen sich damit auf die gleichen Inhalte, die oben kritisiert werden.
Natürlich ist es auch das Ziel der Autoren, die Maßnahmen zur Schadstoffvermeidung zu fördern. Jedoch sehen sie derzeit keine wissenschaftliche Begründung für die aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und NOx . Sie fordern daher eine Neubewertung der wissenschaftlichen Studien durch unabhängige Forscher."
Die Mehrheit der Forschenden sieht dies anders. Und viele Lungenfachärzt:innen auch, denn man muss bedenken: Rund 100 Ärzt:innen der Fachgesellschaft (Deutsche Gesellschaft für Pneumologie) haben dieses Statement unterschrieben, insgesamt hat die Gesellschaft aber rund 4000 Mitglieder.
Die Unterzeichner:innen widersprechen damit auch der offiziellen Linie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, die Ende 2018 ein Positionspapier zu Luftschadstoffen vorgelegt hat.
Artikel Abschnitt: Sollte man die Grenzwerte aussetzen?
Sollte man die Grenzwerte aussetzen?
Aus der Stellungnahme:
"Die oben angeführten Kritikpunkte sind so gravierend, dass im Sinne der Güterabwägung sogar die Rechtsvorschrift für die aktuellen Grenzwerte ausgesetzt werden sollte."
Nino Künzli, Professor am Schweizerischen Tropen und Public Health Institut Basel, sieht "keinen Anlass, langjährig etablierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu leugnen und die von der WHO vorgeschlagenen Grenzwerte in Frage zu stellen." Wer diese aussetzen wolle, setze "zentrale Errungenschaften der Prävention und der Erhaltung der Gesundheit aufs Spiel", so Künzli.
Expert:innen betonen zudem, dass Grenzwerte vor allem dazu da sind, auch schwächere und kranke Menschen zu schützen.
Einige fordern auch strengere Grenzwerte, vor allem für Feinstaub. Denn während der EU-weit geltende Stickstoffdioxid-Grenzwert die Empfehlungen der WHO erfülle, seien die "Feinstaub-Grenzwerte der EU viel zu hoch angesetzt", kritisiert Künzli.
Künzlis Fazit: "Die Luftverschmutzung verursacht akute und chronische Krankheiten wie Krebs, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen und führt zu vorzeitigem Tod. Daran ändern auch die Stammtischdiskussionen einiger älterer Ärzte nichts."
Artikel Abschnitt: Wo sind die Belege?
Wo sind die Belege?
Aus der Stellungnahme:
"Dieser Beitrag soll der Versachlichung der Diskussion dienen. Er entschuldigt natürlich nicht die unverantwortlichen Manipulationen von Teilen der Autoindustrie bzgl. des Schadstoffausstoßes.
Gerne sind wir bereit, jede der einzelnen Aussagen näher mit Literatur zu belegen."
Das ist keine wissenschaftliche Vorgehensweise. Normalerweise werden in wissenschaftlichen Beiträgen die Quellen direkt genannt. Dies haben die Verfasser:innen und Unterzeichner:innen des Briefes unterlassen.
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So, ich rauche seit ca. 38 Jahren etwa 20 Zigarettentäglich. Dann habe ich jetzt schon die 228 fache Feinstaubdosis eines 80jährigen Nichtrauchers inhaliert. Und ich lebe immer noch ohne irgendwelche Krankheiten. Ich bin entsetzt über die ganzen Fahrverbote und Verteufelung des Diesels. Sollten wir uns nicht mehr Sorgen machen um… Weiterlesen »
Jetzt weiss ich endlich, warum die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland immer weiter steigt.
Weil Frau Dr. schneller heilt, als ihr Auto emittiert? Manchmal eventuell. Manchmal wird es aber knapp.
Vgl. etwa ->Verdoppelung des Herzinfarktrisikos über schnellen Anstiegen innerhalb 24h (Jenaer Universität) bspw.