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Gute Bakterien
Warum Probiotika ihr Geld
(noch) nicht wert sind
(noch) nicht wert sind
Probiotische Produkte liegen im Trend. Sie versprechen noch mehr Gesundheit für Gesunde und Genesung für Kranke. Doch ist das berechtigt oder sind es nur leere Versprechen?
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Artikel Abschnitt: Darum geht's:
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Probiotika als Wundermittel
"Neueste Studienergebnisse"
Fast wöchentlich gibt es neue Studienergebnisse aus der Welt der "guten" Bakterien. Von Abwehrkräfte steigern bis Depressionen lindern. Es klingt nach einer Medizin der unendlichen Möglichkeiten. Und immer mehr Produkte drängen auf den Markt. Im Supermarkt, den Drogerien und Apotheken fragt man sich: Welche Bakterien sind noch functional food, also ein neues It-Produkt der "Pimp your fitness"-Welt und welche schon Arzneimittel? Und wie viel darf ich von welchem Produkt erwarten?
Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
Es wird viel behauptet und versprochen, aber viel zu wenig ist bewiesen
Mit Hoffnung Geld verdienen
Hinzu kommt ein alt bekanntes Thema: Der Mensch, vor allem der kranke, braucht die Hoffnung. Die ist allerdings etwas recht Irrationales. Das nutzen andere Menschen aus, indem sie vielversprechende Produkte auf den Markt bringen, für deren Wirkung es keine wissenschaftlich nachhaltigen Beweise gibt. Nur Indizien oder Annahmen. Mit Hoffnung Geld verdienen – das gab es schon immer. Die Frage bei den Probiotika: Sind zumindest vielleicht einige Hoffnungen sogar berechtigt?
Dass es gute und böse Bakterien gibt, das weiß "der" Mensch seit Jahrzehnten und nutzt es seit Jahrtausenden: Denn nichts anderes macht er, wenn er einen Joghurt ansetzt oder Weißkohl von Mikroorganismen zu Sauerkraut umarbeiten lässt.
Fermentieren: Hipster-Trend oder richtig gesund?
Mit "Yakult" fing alles an
Und seit mehr als 80 Jahren gibt es die Idee, dass man gezielt das Darmmikrobiom mit Bakterien von außen unterstützen kann. Ein japanischer Arzt entwickelte bereits 1935 ein Magermilchgetränk mit Milchsäurebakterien (Lactobacillus casei): Yakult kam auf den Markt. Die Geburtsstunde eines ganz neuen Therapiekonzepts. Jahrzehntelang tat sich nicht viel. Aber seit etwa 20 Jahren explodiert der Markt. 10 Millionen Fläschchen stellt allein der Hersteller der "Mutter aller Probiotika" her.
Die erfolgreichsten Nachahmer von Nestlé und Danone machen Milliarden mit ihren Joghurtdrinks, auch wenn ihnen das Bewerben der gesundheitlichen Vorzüge vor zehn Jahren verboten wurde. Grund: Die Studienlage war viel zu dürftig. Welche Bakterienstämme in welcher Dosierung wirken sollen, dafür waren die Herstellerstudien nicht aussagekräftig genug; und man hatte dann versucht, mit unlauterer aggressiver Werbung von den fehlenden Beweisen abzulenken.
Viel Werbung, wenig Nutzen
Und auch in Apotheken wird mit Probiotika Geld verdient. In zwölf Monaten wurden 2018 fünf Millionen Packungen in Deutschland verkauft. Während die ersten Produkte noch gezielt für Darmkranke entwickelt wurden, wenden sich immer mehr Anbieter auch an Gesunde, versprechen vorbeugende Effekte. Dabei fehlen gerade dazu die belegten Studien.
Besonders kritisch sollte Säuglingsnahrung betrachtet werden, denn selbst hier wird mit "probiotisch" oder "combiotisch" geworben. Junge Eltern sind besonders empfänglich, wenn es um "das Beste" für ihre Kinder geht. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) nahm 2015 Stellung: Das BfR weist zudem darauf hin, dass sich anhand der verfügbaren Daten kein gesundheitlicher Nutzen von Säuglingsanfangs- und Folgenahrung mit Zusätzen der bewerteten Bakterienstämme ableiten lässt.
Im Grunde trifft das den Kern der Situation: Es fehlt bis heute an Studien, die einen "gesundheitlichen Nutzen" von Probiotika belegen. Nur wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel.
Eine Gefahr, die noch ganz andere Folgen hat: Die Konsument:innen werden mit pseudowissenschaftlichen Aussagen ohne wissenschaftlichen Unterbau konfrontiert. Das untergräbt langfristig die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft. Die Fake-News aus der Bakterienwelt heute sind der Zweifel an den Ergebnissen evidenzbasierter Forschung morgen.
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An der Idee probiotischer Produkte ist nicht alles schlecht
Heute wissen die Entwicklungsabteilungen der Hersteller, aber auch Forschende der ernährungswissenschaftlichen Labore der Universitäten immer mehr über Darmbakterien.
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Das wissen wir über Darmbakterien:
- In einem Gramm Stuhl können mehr als eine Billion Bakterien leben.
- Etwa 1000–1500 Arten sind bekannt – allein bei uns Menschen. Durchschnittlich beherbergt ein Darm 500 Arten – je mehr, desto besser; darauf weisen Studien und Beobachtungen hin.
- Die Bakterien helfen bei der Verdauung, der Verwertung der Nahrung. Aus für den Darm selber unverdaulichen Nahrungsresten können sie noch Verwertbares herausholen.
- Jeder Mensch hat sein eigenes, sehr individuelles, angeborenes und in den ersten Lebensmonaten geprägtes "Bakterienmuster", Forschende halten es wie den menschlichen Fingerabdruck für schwer veränderbar. Das hat vor allem zur Folge: Egal wie gut ein Bakterium, das von außen dazukommt, wirkt, es wird mit der Zeit von der körpereigenen Flora verdrängt. Man muss also das Probiotikum immer weiter einnehmen, um den gleichen potenziell guten Effekt zu erzielen.
- Es gibt Studien mit ersten Hinweisen auf eine Wirkung: Wenn bestimmte Bakterienarten überwiegen, sinkt zum Beispiel das Risiko, Asthma zu bekommen. Diese einfach einnehmen? Geht leider nicht. Denn der "Schutz" funktioniert nicht bei jedem Menschen gleich. Eine Darmflora, die für den einen Menschen gut ist, kann für den nächsten negative Folgen haben. Woran das liegt, weiß man noch nicht. Außerdem: Viele dieser Ergebnisse kommen aus Tierexperimenten.
- Einige Bakterienarten tauschen sich mit den Immunzellen im Darm aus. Sie fördern zum Beispiel die Toleranzentwicklung der Abwehrzellen: Der Mensch reagiert nicht so empfindlich auf mögliche Allergene. Aber wieder: Welche das bei wem sind, da gibt es bisher nur erste Ergebnisse.
- Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen, aber bei gesunden Menschen unwahrscheinlich. Denn: Wo keine Wirkung auch keine Nebenwirkung. Zwar gibt es erste Hinweise, dass Probiotika zum Wiederaufbau der Darmflora nach einer Antibiotikatherapie kontraproduktiv wirken könnten. Aber genau wie auf der anderen Seite: Die Studienlage ist noch dürftig.
- Die Weichen für das Mikrobiom werden in den ersten Lebensmonaten gestellt. Tatsächlich scheint das Mikrobiom während der ersten Lebensmonate noch steuerbar. Wie man es aber bei welchem Baby in welcher Familie und Umgebung positiv beeinflussen kann? Große Studien: Fehlanzeige.
- Es gibt Risikogruppen und Erkrankte, die von probiotischen Produkten profitieren können. Noch am besten belegt ist das bei einigen Magen-Darm-Erkrankungen. Bei vielen Durchfallkrankheiten wirken einige probiotische Stämme vorbeugend und lindernd, vor allem bei Kindern. Beim Reizdarmsyndrom sind Probiotika in ausreichend hoher Dosierung und nach ärztlicher Rücksprache einen "Versuch" wert. Leider verschwinden die Effekte nach einiger Zeit: Die individuelle Darmflora erobert sich ihr Terrain zurück.
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Artikel Abschnitt: Und jetzt?
Und jetzt?
Geduld!
Und bis dahin kann man schon etwas für seine Darmflora tun: die eigenen guten Bakterien füttern, damit sie die "bösen" Bakterien verdrängen können. Das geht mit sogenannten präbiotischen Lebensmitteln. Im Grunde sind das nichts anderes als bestimmte Ballaststoffe sowie Inulin und Oligofructose: Für uns nicht verdaubar, für "gute" Darmbakterien wie die der Bifido-Familie ein Leckerbissen. Also: Hilfe zur Selbsthilfe.
Aber Achtung, auch hier gilt: Viel ist nicht gleich hilft viel. Wer nach einer ballaststoffreichen Mahlzeiten Bauchweh hat: Menge reduzieren. Vielleicht ist es für deine Darmbewohner genau das falsche Futter. Auf den Bauch hören.
Autorin: Angela Sommer
Probiotika zeigen präventive Wirkung bei Neurodermitis Bei den Probiotika ist die Forschung indes schon einen Schritt weiter. Hier habe eine „Wissenschaftlergruppe der Universitäten Mailand und Paris Studien ausgewertet, in denen probiotische Produkte zur Vorbeugung von Neurodermitis untersucht wurden.“ Insgesamt 14 Studien mit über 6.500 Säuglingen wurden dem IQWiG zufolge berücksichtigt.… Weiterlesen »
„Im Grunde sind das nichts anderes als bestimmte Ballaststoffe sowie Insulin und Oligofructose“
Ich vermute es soll Inulin und nicht „Insulin“ heißen, oder?