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Braunkohle-Streit
Was du wissen musst, um die Debatte um Lützerath zu verstehen
Brauchen wir die Kohle wirklich für die Energieversorgung? Und sind unsere Klimaziele dahin, wenn die Kohle verfeuert wird? Wir haben uns die Studien und Argumente im Detail angeschaut – und wie sie zu so widersprüchlichen Ergebnissen kommen.
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Inhalt
- Worum geht es bei der Debatte um Lützerath?
- Brauchen wir die Braunkohle unter Lützerath für unsere Energiesicherheit?
- Gefährdet die Kohle unter Lützerath unsere Klimaziele?
- Muss Lützerath wirklich abgebaggert werden, damit der Tagebau renaturiert werden kann?
- Ist Lützerath am Rande der Abrisskante standsicher?
- Worum geht es bei der Debatte um Lützerath?
- Brauchen wir die Braunkohle unter Lützerath für unsere Energiesicherheit?
- Gefährdet die Kohle unter Lützerath unsere Klimaziele?
- Muss Lützerath wirklich abgebaggert werden, damit der Tagebau renaturiert werden kann?
- Ist Lützerath am Rande der Abrisskante standsicher?
Artikel Abschnitt: Worum geht es bei der Debatte um Lützerath?
Worum geht es bei der Debatte um Lützerath?
Lützerath, ungefähr eine Autostunde nordwestlich von Köln, liegt direkt an der Abbruchkante des Braunkohletagebaus Garzweiler II – und eigentlich war schon lange klar, dass es dem Tagebau quasi einverleibt werden soll. Schon seit 2005 wurden die Bewohner daher umgesiedelt – kurz nachdem die Erweiterung des Tagebaus festgelegt wurde. Mittlerweile ist das Dorf komplett unbewohnt, der letzte Bewohner ging vor rund vier Monaten.
Klimaprotest in Lützerath
Im Januar 2023 sollen die Baggerarbeiten in Lützerath beginnen. Um das zu verhindern, hatten Klimaaktivist:innen das Dorf besetzt. Ihre Forderung: Lützerath – und die darunterliegende Kohle – soll erhalten bleiben.
Die Aktivist:innen argumentieren: Man brauche die Kohle unter Lützerath nicht für Deutschlands Energiesicherheit. Zudem sei das Vorhaben nicht mit den deutschen Klimazielen vereinbar. Dabei verweisen sie auf Studien, die ihre Thesen unterstützen.
Doch, die Kohle unter Lützerath sei sehr wohl notwendig für unsere Energieversorgung, argumentiert hingegen die Landesregierung NRW – und stützt sich auf andere Gutachten. Zudem seien die abgebaggerten Erdmengen von Lützerath nötig, um die Böschung des Tagebaus für die Zukunft zu stabilisieren. Sonst bestehe die Gefahr von Erdrutschen an den Ufern des Sees, der dort einmal entstehen soll.
Die beiden Seiten in der Debatte um Lützerath argumentieren mit Zahlen und Thesen, die sich widersprechen. Die Sache ist komplex. Wir haben uns deshalb die Studien und Argumente genauer angeschaut – und bei Expert:innen nachgehakt. Wieso kommen die Studien zu so unterschiedlichen Schlüssen?
Artikel Abschnitt: Brauchen wir die Braunkohle unter Lützerath für unsere Energiesicherheit?
Brauchen wir die Braunkohle unter Lützerath für unsere Energiesicherheit?
Die Frage ist also: Reichen diese 170 Millionen Tonnen Braunkohle aus, um unseren Energiebedarf bis zum Kohleausstieg 2030 zu decken? Jetzt wird es schon komplizierter, denn hierzu gibt es verschiedene Studien, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Was sagen die Studien?
Einmal gibt es eine große Studie von BET im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass wir bis zum Kohleausstieg 2030 mindestens 187 Millionen Tonnen Braunkohle aus Garzweiler brauchen – also 17 Millionen mehr, als der Tagebau ohne Lützerath hergibt.
Die Berechnung basiert auf der Annahme, dass die erneuerbaren Energien in Deutschland bis 2030 stark ausgebaut werden, und zwar dreimal so schnell wie bisher – so wie es im sogenannten Osterpaket der Bundesregierung festgelegt wurde.
Sollten die Ziele des Osterpakets aber nicht erreicht werden und die Gaspreise hoch bleiben, kommen die Studienautor:innen auf einen Bedarf von 238 Millionen Tonnen Braunkohle aus Garzweiler bis 2030, um unseren Energiebedarf zu decken.
Kurzum: In allen hier berechneten Szenarien ist das mehr, als im Tagebau Garzweiler noch gefördert werden könnte – ohne Lützerath. Fazit dieser Studie: Lützerath muss abgebaggert werden.
Diese Studien kommen zu anderen Ergebnissen
Dem stehen zwei weitere Studien gegenüber:
- eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom August 2022
- und eine Studie des Energieforschungsunternehmens Aurora vom Dezember 2022
Beide wurden von der kohlekritischen Kampagne Europe Beyond Coal in Auftrag gegeben.
Die DIW-Studie kommt auf insgesamt 161 Millionen Tonnen Braunkohle, die bis 2030 aus Garzweiler noch nötig sind – also neun Millionen Tonnen weniger, als der Tagebau ohne Lützerath noch hergibt.
Catharina Rieve ist als Ingenieurwissenschaftlerin Teil der FossilExit-Forschungsgruppe, die institutionsübergreifend an der TU Berlin, am DIW Berlin sowie an der Universität Flensburg angesiedelt ist. Sie ist Co-Autorin der DIW-Studie und verweist selbst darauf, dass die Studie von Aurora auf Basis aktuellerer Daten und Modellierungen durchgeführt worden sei.
Also widmen wir uns der Aurora-Studie im Detail:
Auf Basis von Modellierungen des Strommarktes kommt die Aurora-Studie zu dem Ergebnis, dass in Garzweiler noch 93 bis 124 Millionen Tonnen Braunkohle für die Verstromung gefördert werden müssten. Dabei scheint der höhere Wert der beiden realistischer. Denn hier wird schon berücksichtigt, dass aufgrund des Ukraine-Konflikts und der Gasknappheit die Laufzeiten von Atomkraftwerken in Deutschland verlängert und Kohlekraftwerke wieder ans Netz geholt wurden.
Doch auch diese Obergrenze sei weniger als die etwa 170 Millionen Tonnen, ab der die Inanspruchnahme von Lützerath notwendig wäre, heißt es in der Studie. Was die Berechnung allerdings nicht mit einschließt: den Braunkohlebedarf für die sogenannte Veredelung. Und das ist auch die größte Kritik an der Studie.
Knackpunkt 1: Veredelung
Denn neben der Stromerzeugung wird ein Teil der Kohle in der Tat auch für die sogenannte Braunkohle-Veredelung benötigt. Veredelungsprodukte sind neben Briketts, die immer weniger genutzt werden, vor allem Braunkohlestaub. Der wird in industriellen Kraftwerken als Energielieferant verwendet, vor allem dann, wenn das Gas knapp und teuer ist.
Und wie viel Braunkohle braucht man dafür? Das Problem: So richtig gute Zahlen hat man hierzu nicht. Die Studie von BET im Auftrag der Landesregierung schließt die Veredelung mit in ihre Berechnung ein und kommt auf 55 Millionen Tonnen Braunkohle, die dafür bis 2030 noch nötig sind. Nach eigenen Angaben von BET ist dies aber nur eine grobe Schätzung und wurde nicht eigens in einem Modell berechnet.
Die Angaben von BET für die Veredelung seien viel zu hoch, kritisiert Catharina Rieve von der FossilExit-Forschungsgruppe: “Die Bearbeitungszeiten der Studie müssen im Sommer 2022 zur Zeit der höchsten Gaspreise und massiver energiewirtschaftlicher Verunsicherung gelegen haben.” Die Gasversorgungslage habe sich aber komplett gewandelt, die Speicher seien voll. “Und bei niedrigeren Gaspreisen wird auch wieder weniger Kohlestaub in der Industrie verwendet."
Die Forschungsgruppe von Catharina Rieve errechnete für die DIW-Studie eine deutlich niedrigere Menge von 41 Millionen Tonnen, die bis 2030 noch für die Braunkohle-Veredelung nötig sei. Fachspezialist Aurel Wünsch vom Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos kritisiert auf Twitter ebenfalls die hohen Veredelungsmengen der BET-Studie und kommt bei seiner Berechnung auch genau auf 41 Millionen Tonnen. Allerdings gründet auch keine dieser Zahlen auf detaillierten Modellen, sondern auf groben Schätzungen.
Gehen wir aber mal aufgrund der Stabilisierung der Energiemärkte von einem niedrigeren Wert von 41 Millionen Tonnen Braunkohle aus, die noch für die Veredelung bis 2030 nötig sind. Addiert mit den Ergebnissen der Aurora-Studie, bräuchte man noch insgesamt 165 Millionen Tonnen Braunkohle aus Garzweiler. Das wären also fünf Millionen Tonnen weniger als die 170 Tonnen Braunkohle, die in Garzweiler noch zu holen sind – ohne Lützerath.
Nimmt man dagegen die Ergebnisse der BET-Studie, würde sich der Braunkohlebedarf immer noch knapp darüber bewegen: zwischen 173 und 224 Millionen Tonnen Braunkohle, auch mit den niedrigeren Mengen für die Veredelung.
Knackpunkt 2: Brauchen wir wirklich so viel Kohle für Strom?
Allerdings kritisieren einige Expert:innen nicht nur die hohen Veredelungsmengen in der BET-Studie. Auch die Kohlemengen, die zur Stromerzeugung nötig sind, seien zu hoch berechnet worden.
Der Grund ist wie gehabt: Die Studie sei Mitte 2022 noch unter den Vorzeichen von hohen Strompreisen, Gasknappheit und drohenden Stromengpässen im Winter erstellt worden – und der damit verbundenen Wiederaufnahme einiger Kohlekraftwerksblöcke, sagt Michael Sterner, Leiter der Forschungsstelle Energienetze und Energiespeicher FENES an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg.
Die Gasknappheit sei jedoch überwunden und ein Stromerzeugungsengpass habe sich bis dato glücklicherweise auch nicht ergeben, so Sterner. Es sei daher möglich, dass weitere Kohlekraftwerksblöcke gar nicht wieder in Betrieb genommen werden müssen – und der Braunkohlebedarf entsprechend sinkt.
Knackpunkt 3: hoher Kohlebedarf in den nächsten drei Jahren
“Nehmen wir mal an, der Verbrauch der Kohle sinkt schneller, als wir prognostizieren und die Gesamtmenge der Braunkohle in Garzweiler ohne Lützerath würde ausreichen – dann haben wir immer noch das Problem, dass wir in den nächsten drei Jahren einen sehr hohen Kohlebedarf haben”, sagt Armin Michels, einer der zwei Hauptautoren der BET-Studie. Dieser könne, so Michels, ohne Lützerath in diesen Jahren nicht gedeckt werden.
In der Tat zeigen alle drei Studien für die Jahre 2023 bis 2025 einen hohen Braunkohlebedarf. Die Aurora-Studie liegt alleine beim Braunkohlebedarf für die Stromerzeugung sogar über den Prognosen der BET-Studie – auch wenn der Bedarf ihren Berechnungen zufolge dann nach hinten heraus schneller absinkt als in der BET-Studie.
“Selbst ohne Veredelung übersteigt der Braunkohlebedarf 2023 bis 2025 die Menge, die in Garzweiler – ohne Lützerath – in diesen Jahren gewonnen werden könnte”, sagt Michels. Das zeige ein von der Landesregierung beauftragtes Gutachten des unabhängigen Bergbauberatungsunternehmens Fuminco.
Knackpunkt 4: langsameres Abbaggern ohne Lützerath?
Der Hintergrund: Die Aussparung von Lützerath führt zwangsläufig zur Aufteilung des Tagebau-Abbaufeldes in zwei kleinere Teilfelder, die dann nördlich und südlich von Lützerath liegen. “Die Schaufelbagger müssten dann statt auf einer langgezogenen Gewinnungsfront zwangsweise in zwei kleineren Teilfeldern mit viel weniger Platz arbeiten, das halbiert ihre Leistung”, sagt Stefan Fuchs, Bergbauingenieur und Gutachter bei Fuminco.
Hier seht ihr das noch mal besser:
Artikel Abschnitt:
Auf Nachfrage von uns verweist Catharina Rieve von FossilExit auf eine mögliche Lösung, die in einer schon früher veröffentlichten DIW-Studie (Januar 2022) grob skizziert ist. “Hier wird die Förderung erst mal weiter im aktuellen Zentralfeld von Garzweiler geführt.” Dort lägen noch rund 100 Millionen Tonnen Braunkohle.
RWE wolle jedoch lieber Lützerath abbaggern, weil der Energiekonzern so nicht umplanen müsse und es die günstigste betriebswirtschaftliche Variante sei, sagt Rieve.
Dem widerspricht Bergbauspezialist Stephan Fuchs: “Im Zentralfeld kann man nur weiter mit hoher Förderleistung Braunkohle abbauen, wenn alle Gewinnungstrassen Richtung Lützerath weiter vorangetrieben werden." Geld sei hier nicht der entscheidende Faktor.
Würde Lützerath ausgespart, seien die mögliche Fördermenge und Förderleistung schlicht bergbauplanerisch und technisch stark begrenzt, so Fuchs. Gleiches sagt auch Michael Denneborg des Ingenieurbüros ahu GmbH, die ein Gutachten zu den wasserwirtschaftlichen Auswirkungen im Auftrag der Landesregierung erstellt haben.
Wir haben hier noch mal bei einem unabhängigen Experten nachgefragt, der weder an den Gutachten der Landesregierung mitgewirkt hat noch am Tagebau in Garzweiler arbeitet.
Albert Daniels, Ingenieur und Professor für Rohstoffgewinnung über und unter Tage an der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum, bestätigt: “Um im Zentralfeld weiter abbauen zu können, müsste der Tagebau nach Lützerath hin weiter ausgebaut werden.” Er erklärt: “Die Bagger sind so entwickelt, dass sie langsam fahren und kontinuierlich baggern. Wenn sie an kurzen Abbauwänden oft umsetzen müssen und immer wieder Totzeiten haben, dann braucht es mitunter doppelt so lang, um die Kohle abzubauen.”
Korrekt sei aber auch: Der Abbau an kürzeren Abbauwänden sei natürlich auch teurer – die Kosten müssten dann die Verbraucher:innen über höhere Strompreise tragen.
Ziehen wir Bilanz:
Wie hoch der Gesamtkohlebedarf für die Stromversorgung in Deutschland bis zum Kohleausstieg 2030 tatsächlich sein wird, kann wohl keiner der vorhandenen Studien wirklich treffsicher einschätzen. Die Lage auf dem Energiemarkt hat sich gerade in den vergangenen Monaten enorm verändert. Aufgrund unterschiedlicher Annahmen kommen die Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Am sichersten sind noch die Hochrechnungen für die nächsten drei Jahre, denn hier kommen alle drei Studien auf einen ähnlich hohen Braunkohlebedarf. Gutachten im Auftrag der Landesregierung legen nahe: Um diese Mengen rein technisch in den nächsten Jahren fördern zu können, müsste Lützerath abgebaggert werden. Zu den alternativen Lösungen, die die Befürworter des Erhalts Lützeraths vorschlagen, liegen keine detaillierten Untersuchungen vor, die die technische Machbarkeit bewerten.
Ihr seht, für die Beantwortung der Frage, ob wir die Kohle unter Lützerath wirklich brauchen, spielen sehr viele Faktoren eine Rolle, die weit über einen reinen Zahlenvergleich der prognostizierten Kohlemengen hinausgehen. Vergleicht man die Studien, die in der Debatte herangezogen werden, im Detail, ist die Antwort keineswegs so eindeutig, wie beide Seiten oft suggerieren.
Und treten wir noch mal einen Schritt zurück:
Wie wir grundsätzlich unseren Energiebedarf decken, ist letztlich auch eine politische Entscheidung. So rechnen all diese Szenarien beispielsweise mit dem beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft – und einem darauf basierenden höheren Kohleverbrauch.
Auf technische Alternativen wie die Atomkraft wird in der Debatte immer wieder verwiesen: Würde man beispielsweise die bestehenden Atomkraftwerke weiter betreiben, würde sich entsprechend der Bedarf an Kohlestrom verringern. Inwiefern das aber technisch möglich und sicher, wirtschaftlich und vor allem perspektivisch sinnvoll ist, ist noch mal eine ganz andere Debatt.
Dazu noch zwei Gedanken, die uns in der Recherche untergekommen sind – wir wollen sie euch an dieser Stelle noch mitgeben: Die einen Expert:innen verweisen darauf, dass eine Einschränkung unserer Energieressourcen riskant sei – das hätten die Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine gezeigt:
“Dabei wurde aber sehr deutlich, wie eine zu starke Abhängigkeit und zu geringe Diversifikation beim Energieangebot die politischen Spielräume einschränkt – auch bei der Klimapolitik, die für den notwendigen strukturellen Umbau im Gebäude- und Verkehrssektor günstige Elektrizität benötigt”, sagt etwa Wilfried Rickels, Leiter des Forschungszentrums Global Commons und Klimapolitik am Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Für ihn ist jede Einschränkung des europäischen Energieangebots “in dem notwendigen politischen Abwägungsprozess bestenfalls mutig.”
Dagegen bekräftigen andere, dass ein größeres Angebot an Kohle oder etwa Atomstrom den Druck auf den Ausbau der erneuerbaren Energien verringern würde – ein sogenannter “Lock-in-Effekt.”
Artikel Abschnitt: Gefährdet die Kohle unter Lützerath unsere Klimaziele?
Gefährdet die Kohle unter Lützerath unsere Klimaziele?
Klar ist: Wir müssen so viele CO2-Emissionen einsparen wie nur möglich – und Braunkohle ist besonders klimaschädlich. Aber mit dem nationalen Klimaschutzgesetz und dem Emissionshandel auf EU-Ebene gibt es gleich zwei Instrumente, die politisch dafür sorgen sollen, dass die Klimaziele eben doch eingehalten werden.
Zuerst soll aber die Frage beantwortet werden:
Überschreitet die Kohle unter Lützerath unser Budget für das 1,5-Grad-Limit?
Weitere Angaben zum Artikel:
CO2-Budget und 1,5-Grad-Limit
Für 50 Prozent Wahrscheinlichkeit, das 1,5-Grad-Limit nicht zu überschreiten, kommt der Umweltrat für Deutschland auf 3,1 Gigatonnen CO2, die ab 2022 noch ausgestoßen werden dürfen.
Dieses Budget lässt sich auf die einzelnen Sektoren herunterbrechen, die in Deutschland zu den Emissionen beitragen – das sind Energie, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft. Wenn wir über Kohleverbrennung sprechen, betrifft das den Energiesektor.
Artikel Abschnitt:
In NRW dürften demnach noch 198 Millionen Tonnen CO2 aus Braunkohle verursacht werden. Wenn man davon ausgeht, dass die Kohle aus dem Tagebau Hambach komplett genutzt wird, bleiben für den Tagebau Garzweiler noch 49 Millionen Tonnen CO2-Emissionen übrig – sofern das verbleibende Budget für das 1,5-Grad-Limit nicht überschritten werden soll. Das entspricht 49 Millionen Tonnen Braunkohle.
Restliches Braunkohle-Budget schon bald verbraucht?
Diese Zahlen gelten ab Januar 2022. Die Forschenden von FossilExit haben aber auch geschätzt, wie viel Braunkohle in Garzweiler 2022 gefördert wurde. Sie gehen davon aus, dass sich das verbleibende Budget bereits halbiert hat – und ab Januar 2023 nur noch 25 Millionen Tonnen Braunkohle für Garzweiler übrig bleiben. Würde im gleichen Tempo wie bisher Kohle abgebaut, wäre das restliche Budget schon Ende 2023 oder Anfang 2024 verbraucht.
Die Überlegungen unter Frage 2 zeigen, dass es keineswegs so einfach zu beantworten ist, wie viel Kohle in Deutschland noch für Verstromung und Veredelung benötigt wird. Die FossilExit-Studie geht davon aus, dass aus Garzweiler noch 161 Millionen Tonnen Kohle nötig wären, was das verbleibende Budget für 1,5 Grad deutlich übersteigt – und das schon in einem Szenario ohne die Kohle aus Lützerath. Andere Berechnungen übersteigen das Budget noch stärker.
Artikel Abschnitt:
Sind unsere Klimaziele deshalb endgültig erledigt?
Nationale Sektorziele
Das Klimaschutzgesetz in Deutschland sieht vor, dass die Emissionen bis 2030 um 65 Prozent im Vergleich zu 1990 reduziert werden. Bis 2045 soll Treibhausgasneutralität erreicht werden. Um das zu erreichen, sind im Klimaschutzgesetz jährliche Ziele für die einzelnen Sektoren festgelegt.
Teil des Deals zum Kohleausstieg 2030 in NRW war, dass kurzfristig mehr Kohle gefördert werden darf, wozu auch die Kohle unter Lützerath gedacht ist. Das gefährdet die Ziele des Energiesektors in den nächsten Jahren.
“Für 2023 und 2024, gegebenenfalls auch für 2025, ist damit zu rechnen, dass die im Klimaschutzgesetz festgelegten Sektorziele im Gegensatz zu den letzten Jahren nicht erreicht werden können”, sagt Manfred Fischedick, der wissenschaftlicher Geschäftsführer am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie und Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wuppertal ist. Prognosen zufolge wurde schon 2022 das Ziel knapp verfehlt.
Ausgleich durch striktere Einsparungen möglich
Bei den längerfristigen Zielen ist die Frage schwieriger zu beantworten. Denn das verbleibende Budget für den Kohleabbau in NRW wird zwar gesprengt, mit oder ohne die Kohle unter Lützerath. Theoretisch kann das aber durch striktere Maßnahmen und Einsparungen in anderen Bereichen und Sektoren wieder ausgeglichen werden. Das schreiben auch die Forschenden der FossilExit-Forschungsgruppe in der Studie.
Der Ausgleich könnte beispielsweise über ein schnelleres Ausbautempo bei den erneuerbaren Energien erzielt werden oder auch, indem Ziele in anderen Sektoren schneller als geplant erreicht werden. “Für den Klimawandel ist dies entscheidend, denn am Ende zählen die kumulierten Emissionen über einen längeren Zeitraum und nicht die Emissionen eines einzelnen Jahres”, sagt Fischedick.
Das zentrale Problem daran: Bisher haben auch viele andere Sektoren ihre Ziele deutlich verfehlt, und die Politik setzt nicht ausreichend Maßnahmen um, um diese Verfehlungen auszugleichen. Das hat ein Gutachten des Expertenrats für Klimafragen im November 2022 ergeben. Der Expertenrat hat einen grundsätzlichen “Paradigmenwechsel” in der deutschen Klimapolitik gefordert, um die längerfristigen Ziele für 2030 noch zu erreichen.
EU-Emissionshandel
Die nationalen Sektorziele sind nicht das einzige klimapolitische Steuerungsinstrument. Das vielleicht wichtigere ist der Emissionshandel der EU.
Weitere Angaben zum Artikel:
Emissionshandel der EU
Im Dezember 2022 wurde der Emissionshandel noch einmal verschärft: Die Zertifikate sollen noch schneller verknappt werden als bisher geplant, bis 2030 sollen die Emissionen um 62 Prozent gegenüber 2005 reduziert werden.
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Aber die Kohle unter Lützerath hat indirekte Effekte auf den Emissionshandel. Durch die Verstromung dieser zusätzlichen Kohle könnte sich der CO2-Preis erhöhen – mit dem Effekt, dass sich Braunkohlekraftwerke immer weniger lohnen würden. Und das könnte zu politischem Druck auf die EU führen, den Emissionsdeckel doch noch aufzuweichen. Und damit die Klimaziele zu gefährden.
“Würde es durch eine solche Entwicklung zu einer Aufweichung des Emissionshandels und damit zusätzlichen indirekten Emissionen kommen, wären die Auswirkungen für die Klimapolitik negativ”, sagt Wilfried Rickels, Leiter des Forschungszentrums Global Commons und Klimapolitik an der Universität Kiel.
Solange der Emissionsdeckel aber umgesetzt wird wie geplant, dürfte die Kohle unter Lützerath mit diesem Instrument erst mal keinen direkten Einfluss auf die Klimaziele der EU haben.
Das sieht auch Ottmar Edenhofer so, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC). “Solange die Obergrenze für den Ausstoß von Treibhausgasen wirklich hart bleibt und sinkt und der CO2-Preis wirkt, können wir vorübergehend auch mehr Kohle verfeuern – weil dies zur Einsparung von Emissionen an anderer Stelle führt, also unterm Strich nicht zusätzliche klimaschädliche Abgase in die Atmosphäre gelangen. Auch wenn Lützerath abgebaggert wird, hat die Kohle keine Zukunft”, sagt er.
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Lützerath als Symbol für die deutsche Klimapolitik
In der Begründung von Scientists for Future heißt es: "Welche Wirkung hat die Räumung im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der deutschen Klimapolitik? Lützerath ist ein Symbol geworden. Es geht um ein aussagekräftiges Zeichen für die notwendige Abkehr vom fossilen Zeitalter.”
Artikel Abschnitt: Muss Lützerath wirklich abgebaggert werden, damit der Tagebau renaturiert werden kann?
Muss Lützerath wirklich abgebaggert werden, damit der Tagebau renaturiert werden kann?
Die Teile des Tagebaus, in denen keine Braunkohle mehr gefördert werden kann, werden kontinuierlich aufgeschüttet (zum Beispiel mit Sand, Kies und am Ende mit fruchtbarer Erde), damit dort wieder landwirtschaftliche Fläche entsteht.
Das verbleibende sogenannte “Restloch” soll am Ende vor allem mit Wasser aus dem Rhein gefüllt werden – in circa 40 Jahren soll dort ein See entstehen. So ist es im Braunkohlenplan der Landesregierung NRW festgelegt. Und diesen Plan muss RWE bei der Stilllegung von Garzweiler einhalten.
Steile Abbruchkanten sollen abgestützt werden
Das Argument ist jetzt: Nur wenn Lützerath abgebaggert wird, könne der Plan eingehalten werden. Der springende Punkt hier: “Die steilen Böschungen des Tagebaus müssen wieder durch Vorschüttungen abgeflacht werden, damit diese dauerhaft standsicher sind”, sagt Geologe Michael Denneborg. Nur ohne steile Abbruchkanten sei eine gefahrlose Nutzung des späteren Restsees und der Ufer möglich.
Um aber die über 200 Meter hohen Böschungen des Tagebaus aufzuschütten, braucht es eine Menge Material und Erde. Und diese soll unter anderem vom sogenannten Abraum Lützeraths kommen, also quasi von dem, was dort abgebaggert wird, um die Kohle freizulegen. Auch das östliche Restloch des Tagebaus soll komplett mit Abraum aus Lützerath befüllt werden – dort kann kein See entstehen.
Zu wenig Material ohne Lützerath?
Eine Studie im Auftrag von RWE kommt zu dem Schluss, dass ohne den Abbau von Lützerath dafür noch 85 Millionen Kubikmeter Abraum fehlen. Die Landesregierung NRW beauftragte die Bergbauspezialisten bei Fuminco, die Zahlen von RWE zu überprüfen. Sie kommen in ihren Gutachten sogar auf weit größere Mengen von 100 bis 120 Millionen Kubikmeter Abriss.
“Wegen des großen Volumens muss der Abraum aus der unmittelbaren Nähe kommen”, sagt Manfred Fischedick vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie.
“Anders ausgedrückt: Zum Erhalt von Lützerath müssten dann andere Orte im Tagebau weichen – eine Entscheidung, wenn man so will, zwischen Pest und Cholera.” Die Landesregierung habe sich nachvollziehbarerweise für den Erhalt der Dörfer entschieden, in denen heute noch Menschen wohnen, ergänzt er.
Aber: auch ganz anderes Szenario möglich
Die Naturschutzorganisation Bund NRW kritisiert an den Plänen, RWE wolle die Befüllung des Tagebaus einfach möglichst kostengünstig hinbekommen. Und wirft der Landesregierung vor, alleine auf RWE-Angaben zu vertrauen – und keine alternativen Szenarien untersuchen zu lassen.
Die FossilExit-Forschungsgruppe verweist in ihrem aktuellen Faktencheck zu Lützerath darauf, dass es sogar eine ökologisch viel sinnvollere Lösung gibt – die auch im Gutachten zur Wasserwirtschaft steht, das die Landesregierung selbst beauftragt hat.
Statt das östliche Restloch komplett mit Abraum aus Lützerath aufzufüllen, könnte man es nur zum Teil füllen – und damit das versauerungsfähige Material abdecken, das verhindert, dass auch dort ein lebensfähiger See entstehen kann. So könnte dort eine “Arche Noah” zur Erhaltung wildlebender Arten entstehen – "ein Mosaik aus Flachwasserbereichen, feucht-nassen Flächen und trockenen Standorten“. Zur landwirtschaftlichen Nutzung wäre diese Fläche dann allerdings unbrauchbar.
Abraum aus Lützerath würde nicht gebraucht
Laut des Gutachtens könnten dadurch etwa 200 Millionen Kubikmeter Abraum eingespart werden. Also mindestens die Menge, die von Lützerath bei der aktuell angestrebten Planung notwendig wäre. Kurzum: In diesem Szenario bräuchte es den Abraum aus Lützerath nicht.
“Geplant und vereinbart im Braunkohleplan (1995) wurde die Wiederherstellung von 1000 ha landwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen und Gewerbeflächen,” sagt Michael Denneborg, einer der Hauptautoren des Gutachtens der ahu GmbH zur Wasserwirtschaft. “Artensterben, Artenschutz und Biodiversität waren damals noch kein großes Thema.”
Aus Sicht des Artenschutzes wäre also die “Arche Noah”-Lösung extrem wertvoll und eine einmalige Chance für die Region, betont Denneborg. Allerdings dränge die Zeit – und einer Diskussion und Entscheidung über diese einmalige Möglichkeit werde wenig Beachtung geschenkt. Denneborg weist aber darauf hin, dass diese Lösung so oder so eine gute Alternative sei – unabhängig davon, ob Lützerath für die Kohlegewinnung abgebaggert wird. Oder nicht.
Artikel Abschnitt: Ist Lützerath am Rande der Abrisskante standsicher?
Ist Lützerath am Rande der Abrisskante standsicher?
“Diese Halbinsellösung wäre geologisch nicht langzeitstabil”, sagt Michael Denneborg, Geologe der ahu GmbH, der sich in einem Gutachten mit den wasserwirtschaftlichen Auswirkungen der Tagebauszenarien befasst hat. “Lützerath würde in den See rutschen.” Es fehle die Masse, um die Halbinsel nachträglich abzusichern.
Auch die Landesregierung NRW schlussfolgert aus den Gutachten, dass ein Erhalt Lützeraths auch wegen der instabilen Halbinsellösung nicht möglich ist.
Und was, wenn auch das nördliche Feld nicht abgebaggert wird?
“Nicht untersucht wurde jedoch zum Beispiel eine Tagebauführung mit nur einem südlichen Teilfeld und somit vermutlich erhöhter Standsicherheit”, kritisiert Antje Grothus von den Grünen. In diesem Fall würde man also nicht nur die Braunkohle in Lützerath, sondern auch Kohlevorräte im Norden Lützeraths unberührt lassen.
“Im Nordfeld liegen nur knapp zehn Millionen Tonnen Braunkohle, die restlichen 160 Millionen Tonnen im Südfeld und im Zentralfeld wären also noch verfügbar”, favorisiert auch Catharina Rieve von der FossilExit- Forschungsgruppe diese Option. Die Landesregierung sollte zumindest diesen Ansatz einmal überprüfen.
Das würde die verfügbare Braunkohlemenge aber natürlich nochmal reduzieren. Die Landesregierung geht aber jetzt schon davon aus, dass die Kohle ohne Lützerath für die Energieversorgung nicht reicht. Wie strittig diese Frage ist und auf welchen Annahmen sie basiert, hatten wir in Frage 1 geklärt.
Autorinnen: Inka Reichert, Lena Puttfarcken
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Wir haben in Deutschland für 400 Jahre Kohle.Abbauen,auf Halde.Für später.Sollte die Stromversorgung zusammenbrechen=Kohlekraftwerke.Da ja völlig unsinmig die neusten Atomkraftwerke unüberlegt abgeschalten wurden.
Umbedingt die Kohle offen abbauen.Offener Abbau ist effektiv und sicher.In anderen Länder müssen die Arbeiter in der Erde ca.1000 Meter die Kohle schlagen.Ergebniss jedes Jahr Tote.Wir müssen die Kohle abbauen und diesen Ländern verkaufen (China etc).
Deutschland sollte offen bleiben, die technisch besser und preislich guenstige Solarmodulen aus China einzukaufen und die Kohlenkraftwerk schrittweise auszuschalten. Die CO2 Emission per Koft ist hier nicht niederig.
Danke für diesen sorgfältig recherchierten Artikel! Tolles Beispiel für guten Wissenschaftsjournalismus. So fühlt man sich gut und umfassend informiert und nicht manipuliert. So kann sich Meinung bilden und lassen sich dogmatische Spaltungen vermeiden. Vielen Dank für Ihre gute Arbeit!
Ich bedanke mich für die tolle und umfängliche Recherche, sehr neutral und ohne Bewertung! Wissenschaftsjournalismus wie er sein sollte. Extreme Polarisierungen können so aufgeweicht und Meinungsoffenheit begünstigt werden. Ich habe den Artikel mit Vergnügen gelesen und fühle mich dadurch bestens informiert! Vielen Dank!
Vielen Dank für diesen sorgfältig recherchierten Artikel. Hier werden die wesentlichen Aspekte und die jeweils zugehörigen gutachterlichen Bewertungen der unterschiedlichen Interessensgruppen sehr detailliert und neutral dargestellt, ohne dass eine persönliche Bewertung („Meinungsmache“) der Autorin erkennbar ist. Auf der Basis solcher Artikel kann sich jeder eine eigene Meinung bilden. Top Journalismus… Weiterlesen »
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