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Biodiversität
Warum wir Artenvielfalt brauchen
Der Mensch kennt noch lange nicht alle Tier- und Pflanzenarten auf der Erde. Viele sterben aus, bevor wir sie zum ersten Mal sehen. Doch warum ist die Artenvielfalt überhaupt wichtig?
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Die Zahl der Tiere und Spezies nimmt dramatisch ab
Wie viele Arten unseren Planeten tatsächlich bevölkern, da sind sich die Wissenschaftler:innen weniger einig. Die meisten von ihnen gehen allein wegen der Vielzahl an Mikroorganismen von insgesamt etwa zehn Millionen Arten aus, einige erwarten bis zu 100 Millionen Arten. So oder so: Die meisten sind noch unbekannt.
Einigkeit herrscht allerdings darüber, dass sowohl die Zahl der Tiere als auch die Vielfalt der Arten in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen hat – und dass eine Ursache besonders schwer wiegt: der Eingriff des Menschen. Jahrhundertelang hat er Fischbestände leergefischt, Herden bis zur Ausrottung gewildert und einzigartige Lebensräume zerstört. 75 Prozent der Landoberfläche und zwei Drittel der Meeresökosysteme hat der Mensch bereits stark verändert.
Noch bekommt das Artensterben wenig Aufmerksamkeit
Die internationale rote Liste gefährdeter Arten umfasst derzeit lediglich 97.000 Spezies, die untersucht wurden. Mehr als ein Viertel von ihnen ist vom Aussterben bedroht. Insgesamt sinkt die Zahl der Tiere bei etwa einem Drittel aller Arten, wie unterschiedliche Studien an Säugetieren, Reptilien und Vögeln gezeigt haben. Auch bei Insekten haben Forschende mittlerweile einen erheblichen Rückgang festgestellt.
In den nächsten Jahrzehnten könnten mehr als eine Million Spezies vom Aussterben bedroht sein. Dazu kommt der aktuellste und umfangreichste Bericht des Weltbiodiversitätsrates (IPBES). Er stellt auch fest: Die Rate, mit der Arten derzeit aussterben, ist zehnfach bis mehrere Hundert Mal größer, als sie es in den vergangenen zehn Millionen Jahren auf ganz natürliche Weise war.
Doch so klein und beiläufig, wie viele Spezies neben dem Menschen existieren, erregt dieses Sterben im Stillen weit weniger Aufmerksamkeit als bedrohte Tiger, Pandas oder Buckelwale. Und bislang kennt man allein etwa 10.000 verschiedene Asselarten. Was wäre, wenn es nur noch 100 von ihnen gäbe?
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Der Mensch wird ohne die Vielfalt kaum überleben
Der Begriff Biodiversität schließt auch die genetische Vielfalt ein. Sobald sich eine Art aufspaltet und eine neue entsteht, unterscheidet sich ihr Erbgut so sehr, dass sich die Tiere nicht mehr miteinander paaren können.
Organismen tragen in ihrem Erbgut immer auch ihren eigenen Bauplan mit sich. Die biologische Vielfalt ist damit wie eine wandelnde Bibliothek, in der jedes Buch für eine eigene Art steht. Doch mit jeder aussterbenden Spezies verschwindet ein Buch endgültig und damit auch ihr Wissen. Über Jahrmillionen hat die Natur die Bücher fortgeschrieben, den genetischen Code mal zufällig und mal gezielt verändert, damit die Asseln nicht mehr nur unter Wasser, sondern auch an Land überleben können.
Könnten wir nicht einfach unser eigenes Ökosystem erschaffen?
Darüber hinaus steht der Begriff Biodiversität auch für die Vielfalt der Ökosysteme, also der Lebensbereiche. Beides wird als schützenswert erachtet und es gilt: je vielfältiger, desto besser. Aber würden statt vielleicht zehn nicht auch eine Million Tierspezies ausreichen oder gar nur einige Tausend? Rein theoretisch ginge es mit weniger.
Mit ausreichend Wissen könnte der Mensch sich ein überlebensfähiges, künstliches Ökosystem aufbauen. Wichtig sind eine funktionierende Nahrungskette und ebenso ein Nährstoffkreislauf. Vereinfacht gesagt, bräuchte man nur eine Art Arche Noah mit bestimmten Kernspezies, die sehr genau aufeinander abgestimmt sind, und die sogenannten Schlüsselspezies, also solche, die für ein Ökosystem besonders wichtig sind.
Dazu zählen an der Nordsee etwa die Wattwürmer, im Ozean sind es bestimmte Planktonarten, woanders könnte es auch ein Raubtier sein, dessen Jagd den Bestand von Beutetieren reguliert. Ein paar Mikroben, Insekten, Reptilien und Säugetiere – und es könnte losgehen. So könnte der Mensch auch gezielt auf die Spezies setzen, die besonders viel leisten – also die Pflanzenarten, die wie ein Bambus besonders schnell wachsen, Kohlenstoffdioxid binden und Sauerstoff produzieren.
Dieses künstliche Ökosystem wäre aber vor allem eines: fragil. Je weniger Spezies, desto anfälliger sind Ökosysteme durch Störungen oder Veränderungen von außen. Ein Risiko etwa sind die Veränderungen durch den Klimawandel.
Es gab immer wieder Phasen mit wenigen Spezies
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Vielfalt auf der Erde sich immer wieder durchsetzt. In der Erdgeschichte gab es immer wieder Zeiträume, in denen es nur wenige Tier- und Pflanzenspezies gab. Fünf große Massensterben hat unser Planet bereits miterlebt, in denen bis zu 95 Prozent aller Arten ausgestorben sind. Doch anschließend ist immer wieder dasselbe passiert: Es sind wieder mehr Arten entstanden, um auch die entlegensten und lebensfeindlichsten Flecken der Erde erneut zu besiedeln.
Für unseren Planeten gilt: Nichts ist beständiger als der Wandel. Schon immer haben sich die Lebensbedingungen auf der Erde geändert, mal schleichend oder mal plötzlich. Und nur wer sich anpasst, der überlebt. So hat jede Tierspezies ihre ökologische Nische, ihre Überlebensspezialität.
Kakteen beispielsweise trotzen der Hitze und anhaltender Dürre, andere Arten fahren im Winterschlaf ihren Stoffwechsel herunter. Asseln in Europa tolerieren andere Temperaturen als auf der Südhalbkugel.
Der Mensch profitiert von Artenvielfalt
Jede Art spielt in ihrem Ökosystem eine eigene Rolle. Viele nehmen wir nicht bewusst war, weil wir sie gar nicht sehen. Aber das Wattenmeer und die Böden wären ohne Watt- oder Regenwürmer nicht vorstellbar. Jedes Ökosystem umfasst ein kompliziertes Geflecht von Millionen von Arten, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Systeme streben ein Gleichgewicht an und regulieren sich selbst.
Der Mensch hat dieses Gleichgewicht durch seine Dominanz erheblich gestört. Dabei ist er in hohem Maße auf die Vielfalt der Spezies und Ökosysteme angewiesen. Die Tropen bieten nicht nur Lebensraum für besonders viele Tierarten, sie produzieren auch einen Großteil des Sauerstoffs, den der Mensch zum Atmen benötigt. Insekten, Bakterien und Pilze zersetzen totes Material, damit die Nährstoffe erneut durch die Nahrungskette wandern – und letztlich auch den Menschen ernähren.
Biodiversität als (wirtschaftlicher) Wert
Der Mensch profitiert von mehreren Tausend Heilpflanzen, die schon seit Jahrtausenden Wirkstoffe für Arzneien und Medikamente liefern. Selbst die unterschiedlichsten Baumsorten sind nicht nur wegen ihrer Früchte nützlich, egal ob Bambus oder Eiche – die Holzarten dienen unterschiedlichsten Bauzwecken. Undenkbar, wenn es auf der Erde plötzlich nur noch zehn Baumspezies geben sollte.
Aus der Biodiversität ergibt sich dadurch auch ein erheblicher wirtschaftlicher Wert. Der Wert dieser Ökosystemleistungen wird allein für die vielen Naturschutzreservate auf mehrere Billionen US-Dollar pro Jahr geschätzt. Ein Beispiel: Weltweit sind 75 Prozent der angebauten Getreidearten für die Selbstversorgung von Bestäubern abhängig.
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Und jetzt?
Wir brauchen weitere Schutzmaßnahmen
Der Global Biodiversity Outlook der internationalen Biodiversitätskonvention nennt die Landwirtschaft als einen der einflussreichsten Faktoren für den Artenrückgang an Land, bis zu 70 Prozent sollen allein darauf zurückgehen. Rodungen und weiträumige Plantagen, genauso wie kilometerlange Ackerflächen haben den Lebensraum vieler Arten jahrzehntelang zerstört. Insbesondere in artenreichen Regionen in den Tropen, wo die Ackerflächen und Plantagen zwischen 1980 und 2000 um 100 Millionen Hektar zugenommen haben, sind intakte Waldökosysteme verloren gegangen.
Genau hier können Gegenmaßnahmen in Zukunft ansetzen. Dazu müssen Wissenschaftler:innen nicht nur die Spezies explizit untersuchen, die Politik muss auch weitere Gebiete unter Schutz stellen, damit sich die Ökosysteme stabilisieren können und es für gefährdete Tierarten Rückzugsgebiete gibt. Die EU beispielsweise will bis 2020 den Schutzstatus für doppelt so viele Habitate und zusätzlich halb so viele Spezies verbessern.
Der Weltbiodiversitätsbericht ist ein erster Schritt
Ein wichtiger Schritt könnte im Mai 2019 mit der Unterzeichnung des Weltbiodiversitätsberichts geschehen sein. Ähnlich wie beim Pariser Klimaabkommen haben am selben Ort alle 132 vertretenden Länder das umfangreiche Dokument unterzeichnet, für das rund 150 Wissenschaftler:innen aus allen möglichen Disziplinen weltweit über Jahre die aktuellsten Forschungsergebnisse zusammengetragen haben. Den Bericht mit seinen zum Teil drastischen Erkenntnissen zu unterzeichnen, wird von vielen als ein erster, wichtiger Schritt angesehen.
Nicht in jedem Fall muss sich der Mensch vollständig aus der Natur zurückziehen. Streuobstwiesen oder bestimmte Ackertypen können beispielsweise zu einem artenreichen Biotop werden. Insofern lassen sich menschliche Interessen durchaus mit den Bedürfnissen der Natur verbinden. Ob die Natur nicht auch mal Vorrang hat, könnte eine wichtige Frage sein – paradoxerweise: sogar aus Eigeninteresse.
Investitionen in den Artenschutz
Eine Studie beziffert die Kosten für den Erhalt und die Erschaffung neuer Schutzgebiete weltweit auf rund 67 Milliarden Euro. Setzt man diesen Betrag in Relation zu Umsatzzahlen von Industrien und Wirtschaftszweigen, so mutet die Zahl gar nicht so hoch an. Der weltweite Export von Forstprodukten bewegt 218 Milliarden Euro. Der Umsatz im Fischereihandel lässt sich global auf 248 Milliarden Euro beziffern. Und die internationale Luftfahrtbranche setzt sogar rund 726 Milliarden Euro um.
Die Kosten für den Schutz einzelner Arten lassen sich allerdings nur schwer berechnen. Das hängt besonders mit den komplexen Ökosystemen zusammen, in denen die Arten leben. "Wenn Sie beispielsweise Geld für eine Wiesenbrüter-Population auf feuchten Wiesengebieten ausgeben, unterstützen Sie damit auch ganz bestimmte Pflanzen und Insekten", erklärt Burkhard Schweppe-Kraft vom Bundesamt für Naturschutz (BFN).
Aus ökonomischer Sicht sind die Kosten damit nicht eindeutig zurechenbar. "Es gibt nur wenige Artenhilfsmaßnahmen, die ganz gezielt einzelnen Arten helfen", ergänzt Schweppe-Kraft. Die Maßnahmen haben in der Regel auch Auswirkungen auf andere Arten im Ökosystem.
3,5 Millionen für mindestens eine Art
Eine einfache Durchschnittskalkulation kann zumindest die Größenordnung deutlich machen: Nach Berechnungen der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Naturschutz, Landschaftspflege und Erholung (LANA) wird eine erfolgreiche Umsetzung des europäischen NATURA – 2000 – Netzwerkes in Deutschland jährliche Kosten von rund 1,4 Milliarden Euro verursachen. Schutzobjekte dieses Netzwerkes sind in Deutschland knapp 400 Arten aus verschiedenen Anhängen der zugrundeliegenden EU-Richtlinien.
Dazu zählt auch die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, die wildlebende Arten schützen soll, sowie die Vogelschutz-Richtlinie. Darunter fallen aber auch Maßnahmen wie beispielsweise die Schaffung von Wiesenbrüterschutzflächen oder Renaturierungsmaßnahmen. Dies ergäbe durchschnittliche jährliche Kosten von 3,5 Millionen Euro pro Art, die in den Anhängen als Schutzobjekte definiert sind. Aber auch hier gilt: NATURA 2000 kommt deutlich mehr Arten zugute, als in den Anhängen verzeichnet sind.
Autoren: Mathias Tertilt/Benjamin Esche
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