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Krankenhausdaten und Inzidenz
Ist die Inzidenz noch das richtige Maß für Beschränkungen?
In der Corona-Pandemie entscheidet die Inzidenz über Beschränkungen. Künftig sollen auch Krankenhauseinweisungen berücksichtigt werden. Was sagt die Inzidenz noch aus?
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Mit zunehmender Impfquote ändert sich die Bedeutung der Inzidenz
Mit steigender Impfquote aber ändert sich nun die Situation. Ein Großteil der Risikogruppen ist geimpft, das heißt: Der Anteil der schweren Verläufe sinkt, weniger Menschen müssen auf die Intensivstation, weniger Infizierte sterben – auch bei höherer Inzidenz.
Weitere Kennziffern nötig
Dieser Effekt ist gerade in England zu beobachten. Stark steigende Infektionszahlen gehen dort aktuell mit niedrigen Sterbefällen einher. Kurz: Die Inzidenz entkoppelt sich nach und nach von der Belastung der Krankenhäuser. Im Juli 2021 kündigte die Bundesregierung an, mögliche Maßnahmen nicht nur an der Inzidenz auszurichten, sondern auch verstärkt an die Situation in den Krankenhäusern zu koppeln – etwa die Auslastung der Intensivstationen oder die Neuaufnahmen im Krankenhaus.
Diese Sichtweise wird auch in Fachkreisen geteilt. Der Münchener Mediziner Clemens Wendtner meint: "Angesichts niedriger Inzidenzen in den letzten Wochen und einer stetig steigenden Impfquote in Deutschland macht es aus klinischer Sicht Sinn, künftig die Corona-Maßnahmen an weitere Kennziffern zu knüpfen. Hierbei geht es darum, bereits früh Belastungsgrenzen für den Gesundheitssektor und nicht zuletzt auch für den Kliniksektor zu erkennen."
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Darum müssen wir drüber sprechen:
Ja, die Inzidenz allein hat Schwächen
1. Die Inzidenz ist von vielen Faktoren abhängig – etwa von der Teststrategie
Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich die Teststrategie mehrfach verändert. Die Inzidenzen des Frühjahres 2021 sind also nicht mit denen des Vorjahres vergleichbar, wie sich anhand der Anzahl aller Testungen gut erkennen lässt.
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Werden deutlich mehr Menschen mit einem PCR-Test getestet, beispielsweise Urlaubsrückkehrer (wie im vergangenen Sommer und wie auch jetzt wieder geplant), werden dadurch auch vermehrt Infizierte entdeckt, die kaum Symptome haben und von ihrer Erkrankung vielleicht gar nichts gemerkt hätten. Nicht direkt relevant für die Kapazität der Krankenhäuser, trotzdem eine Infektionsquelle, die das Virus weitergeben kann.
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Höhere Inzidenzen nur durch mehr Tests?
Und: Wenn die Zahl der PCR-Tests steigt, liegt es mit der jetzigen Teststrategie vor allem daran, dass es mehr Menschen mit Symptomen gibt – die deshalb getestet werden.
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2. Die Inzidenz ist abhängig davon, ob sich Menschen auch testen lassen
In den Ferienzeiten, etwa um Weihnachten und Ostern, waren die Fallzahlen oft trügerisch niedrig, weil deutlich weniger getestet wurde (sieht Grafik unten). Die Fallzahlen sanken und damit auch die 7-Tage-Inzidenzen – eben jene Daten, die bisher allein über Lockerungen und Beschränkungen entschieden haben. Nur sind die Zahlen in solchen Zeiten nicht aussagekräftig – die Inzidenz bildet das Infektionsgeschehen nicht richtig ab.
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3. Die Inzidenzen zeigen erst einmal nicht, wie viel Menschen auch wirklich krank werden
Inzidenzen spiegeln, wie viele Menschen sich mit dem Virus infiziert haben – nicht aber, wie viele Menschen auch Symptome entwickeln oder sogar mit einem schweren Verlauf ins Krankenhaus müssen.
Aber: In einer noch ungeimpften Bevölkerung war damit zu rechnen, dass ein gewisser Anteil der Infizierten ins Krankenhaus musste, ein gewisser Teil auf der Intensivstation behandelt werden musste. Und so war das Ansteigen der Inzidenz ein solides Warnsignal, dass kurze Zeit später auch wieder mehr Menschen ins Krankenhaus kommen.
Dieser Zusammenhang entkoppelt sich jetzt nach und nach. Weil immer mehr Menschen geimpft sind, infizieren sich jetzt vermehrt jüngere Menschen – diejenigen, die sich noch nicht impfen lassen konnten oder sich nicht impfen lassen wollen. Selbst bei höherer Inzidenz wird es künftig also immer weniger schwere oder tödliche Verläufe geben, denn bei Kindern und Jugendlichen etwa verläuft Covid-19 oft mild. Eine hohe Inzidenz deutet also immer weniger auf eine drohende Belastung der Krankenhäuser hin.
Trotzdem ist klar: Auch weiterhin wird ein gewisser Anteil der Infizierten ins Krankenhaus müssen – nur ist der eben zunehmend kleiner als bisher. Heißt also: Auch weiterhin wird es einen Zusammenhang zwischen Inzidenz und Krankenhausdaten geben.
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Auch Krankenhausdaten haben Nachteile
Schon seit Monaten gibt es die Forderung, dass verstärkt genau darauf geschaut werden soll: auf die Belastung der Intensivstationen. Statistiker der Ludwig-Maximilians-Universität in München etwa hielten deshalb die Situation in den Krankenhäusern schon vor Monaten für einen besseren Indikator als die Inzidenz.
Der Indikator sei genauer, weil er keinen Schwankungen durch Meldeverzug unterliegt – und weil er auch durch Faktoren wie eine höhere Impfquote nicht verfälscht wird.
Aber auch diese Kennzahl hat Schwächen:
1. Sie greift erst sehr spät
Bis ein Infizierter tatsächlich im Krankenhaus oder sogar auf der Intensivstation landet, vergehen mehrere Tage. Die Krankenhausdaten bilden das Infektionsgeschehen also mit noch mehr Verzug ab als die Inzidenz.
2. Sie ist nicht regional aufgeschlüsselt
Das DIVI-Intensivregister weist die Zahl der Neuaufnahmen nur für Deutschland gesammelt aus. Es gibt also nach jetzigem Stand keine (öffentlichen) regionalen Daten über die Zahl der Neuaufnahmen auf Intensivstationen.
3. Kein Hinweis auf Betroffene von Long Covid in der Bevölkerung
Schaut man nicht mehr auf die Zahl der Infektionen, sondern nur noch auf die schweren Fälle, rutschen alle Menschen mit milden Verläufen durchs Raster – Menschen, von denen ein nicht zu vernachlässigender Teil an Long Covid erkranken wird, teils mit schweren Organschäden.
Mit neuer Verordnung alles besser?
Mit einer neuen Verordnung aus dem Gesundheitsministerium soll zumindest der zweite Kritikpunkt ausgeräumt werden. Die Krankenhausdaten müssen künftig auch regional ausgewiesen werden. Ein Kritikpunkt, den es allerdings auch bei der Inzidenz gibt, könnte dafür hinzukommen – Meldeverzug.
Auch beim DIVI-Intensivregister blieben Meldungen zwischenzeitlich aus, auch die Datenqualität wurde angezweifelt.
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Experten: Krankenhausdaten einzubeziehen, ist sinnvoll
Der Mannheimer Statistiker Prof. Christoph Rothe sieht es positiv, dass die Krankenhausdaten künftig eine größere Rolle spielen sollen, betont aber: "Wichtig wird sein, dass diese Daten vollständig und zeitnah erhoben und zugänglich gemacht werden. Außerdem wird zu klären sein, wie genau diese Daten in eventuelle Entscheidungen zum Infektionsschutz einfließen sollen."
Ein komplettes Abrücken von der Inzidenz als Indikator hält der Bremer Epidemiologe Prof. Hajo Zeeb noch nicht für sinnvoll: "Für den Herbst und Winter wird es aus meiner Sicht weiter sinnvoll sein, eine Infektionsüberwachung anhand von Inzidenzen weiterhin durchzuführen. Danach wird zu prüfen sein, ob darauf verzichtet werden kann."
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Und jetzt?
Die Inzidenz komplett zu vernachlässigen, wäre ein Fehler
Entscheidend wird auch sein, wie genau die Daten künftig zusammenspielen: Sollen sie die Inzidenz komplett verdrängen oder nur ergänzen? Sollten Beschränkungen künftig nur an den Krankenhauseinweisungen statt an der Inzidenz festgemacht werden, wäre das ein Fehler.
Das verpasst man, wenn man die Inzidenz vernachlässigt
So wie es nie besonders sinnvoll war, alles nur von Inzidenzen abhängig zu machen, so ist es ebenso wenig sinnvoll, jetzt nur auf die Krankenhausdaten zu schauen:
- Bis Patient:innen wegen Covid überhaupt im Krankenhaus landen, vergeht viel Zeit – Zeit, in der das Infektionsgeschehen schon sehr viel stärker geworden sein könnte. Die Inzidenz bleibt der beste Frühwarnindikator.
- Ist die Inzidenz hoch, erhöht das die Wahrscheinlichkeit für neue, möglicherweise ansteckendere Virusvarianten.
- Das Risiko für Long Covid wird ignoriert.
- Kinder und Jugendliche können nicht zwangsläufig geimpft werden und kommen nur sehr selten wegen Covid ins Krankenhaus. Trotzdem kann das Virus auch bei ihnen zu ernsten Erkrankungen führen, in ganz seltenen Fällen auch mit bleibenden Schäden. Verliert die Inzidenz an Relevanz, wird dieses Risiko für Kinder in Kauf genommen.
Die neuen Daten müssen also in eine sinnvolle Strategie eingebunden werden. Wie die aussehen könnte? Der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters Prof. Christian Karagiannidis empfiehlt diesen Weg: "Zusammenfassend ist der Dreiklang aus Inzidenz (Infektionsdynamik), Intensivbelegung und -neuaufnahmen und Krankenhausneuaufnahmen extrem wertvoll für den Herbst".
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Können Sie weitere Einfärbungen vornehmen? zB 100, 150, 200? Diese haben (derzeit noch) keine rechtliche Relevanz, aber eine durchgängig rote Karte, auf die es ja hinausläuft hat weniger Informationswert als möglich. Derzeit muss man im großen „roten Feld“ immer suchen, wo die Werte, wie verteilt sind.
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