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Intensivbetreuung
Was das Triage-System
zu bedeuten hat
zu bedeuten hat
Kliniken sind überfüllt, alle Betten belegt – wer wird behandelt? Kommt es zum Schlimmsten, müssen Ärzte dramatische Entscheidungen treffen. Die Triage bietet ihnen Hilfe.
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Artikel Abschnitt: Was ist das Grundproblem?
Was ist das Grundproblem?
In Sachsen standen Ärzte im Winter 2020 schon mehrfach vor dieser schweren Entscheidung, wie ein ärztlicher Direktor einer Klinik in Zittau im Landkreis Görlitz in einem Online-Bürgerforum erklärt haben soll. In einer Presseerklärung seines Arbeitgebers heißt es allerdings, die Patienten würden „die bestmögliche Therapie“ erhalten und bei Engpässen in umliegende „Krankenhäuser ausgeflogen werden“.
Auch ein Jahr später sind viele Intensivstationen stark ausgelastet, sodass in den Bundesländern Sachsen und Bayern bereits vor einer Anwendung der Triage gewarnt wird.
Artikel Abschnitt: Was genau bedeutet Triage?
Was genau bedeutet Triage?
Der französische Chirurg Freiherr Dominique Jean Larrey entwickelte die Triage im Jahr 1792 während der Napoleonischen Kriege. In Zeiten knapper Ressourcen brauchte man ein System, um zu entscheiden, welche der zahlreichen Verletzten zuerst behandelt wurden. Ziel der Triage war es, Soldaten möglichst schnell wieder fit für den Einsatz zu machen. Das bedeutet, dass diejenigen mit den besten Aussichten auf Genesung zuerst Hilfe bekamen, und nicht die Menschen, die sie am nötigsten brauchten.
Dieser Ansatz steht im Konflikt mit den Prinzipien der Medizin heutzutage: In einer Notaufnahme werden Menschen, denen es besonders schlecht geht, auch besonders dringlich behandelt. Im Krieg, bei Katastrophen oder in anderen Ausnahmefällen wandelt sich das – es mangelt an Zeit, Personal und Materialien, sodass eine angemessene Versorgung aller nicht möglich ist. In solchen dramatischen Situationen dient die Triage dazu, Behandlungsentscheidungen so zu treffen, dass möglichst viele Menschen überleben.
Artikel Abschnitt: Warum brauchen wir so ein System?
Warum brauchen wir so ein System?
Um das medizinische Personal in einem solchen Dilemma nicht alleine zu lassen, ist es wichtig, Richtlinien zur Orientierung zu schaffen. Ein Triage-System mit festgeschriebenen Kriterien und Handlungsanweisungen entlastet Mediziner und Pfleger auch psychisch: Sie sind nicht mehr individuell für ihre Entscheidung verantwortlich. Klare Vorgaben schaffen außerdem Chancengleichheit für Erkrankte; niemand kann aus irgendwelchen Gründen bevorzugt werden.
Artikel Abschnitt: Wer entscheidet in Deutschland?
Wer entscheidet in Deutschland?
Keine Gesetze, aber Leitlinien
Medizinische Leitlinien werden in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) veröffentlicht. Es gibt verschiedene Abstufungen bei Leitlinien: von S1- über S2k- und S2e- bis zur höchsten S3-Leitlinie. S1 bedeutet, dass eine Gruppe von Experten Empfehlungen ausspricht, auf die sie sich in einem “informellen Verfahren“ geeinigt haben. Für eine S3-Leitlinie muss alles evidenzbasiert sein, ausreichend Studien vorliegen und offizielle Gremien beratschlagen.
Die Leitlinien der AWMF geben normalerweise den aktuellen Erkenntnisstand zu einem spezifischen Krankheitsbild wieder und dienen so als Entscheidungshilfe für Ärzte, wenn sie die Behandlung planen. Leitlinien sind keine Gesetze und auch in diesem Sinne juristisch nicht bindend. Allerdings kommt eine gute Leitlinie der Abbildung des medizinischen Standards nahe – der wiederum für Ärzte verbindlich und rechtlich relevant ist.
Die Triage-Empfehlungen bedeuten, dass das medizinische Personal ihnen im Ernstfall folgen sollte. Auch um sich vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen, falls es zu einer Klage kommt. Vonseiten der Regierung wird es keine zusätzlichen Vorgaben geben: Das Grundgesetz verbietet dem Staat, Richtlinien festzulegen. Die in Artikel 1 GG festgeschriebene Würde des Menschen untersagt es der Politik, in diesem Bereich einzugreifen. Das hat das Bundesverfassungsgericht im August 2020 auch noch einmal bestätigt.
Artikel Abschnitt: Welche Kriterien gelten bisher konkret?
Welche Kriterien gelten bisher konkret?
Die klinische Erfolgsaussicht gilt dabei als wichtigstes Entscheidungskriterium: Je schneller jemand wieder gesund wird, desto eher kann der nächste Patient den frei gewordenen Platz auf der Intensivstation nutzen.
Um die Erfolgsaussicht zu prüfen, führen die Fachgesellschaften folgende Kriterien an:
- den Schweregrad der Erkrankung
- den allgemeinen Gesundheitszustand
- mögliche Begleiterkrankungen, die die Diagnose verschlechtern können (z.B. eine fortgeschrittene Krebserkrankung oder Immunschwäche)
Wichtig ist dabei das Mehraugenprinzip: Am besten sollten mindestens zwei Ärzte der Intensivmedizin und ein erfahrenes Mitglied aus dem Pflegeteam gemeinsam entscheiden. Die genannten Kriterien müssen im Laufe der Behandlung immer wieder geprüft und der einzelne Fall möglicherweise neu bewertet werden. Das Alter wird explizit als alleiniges Entscheidungskriterium ausgeschlossen. Gleiches gilt für soziale Faktoren: Bildungsstand, Einkommen oder sozialer Status dürfen keine Rolle spielen.
Entscheidung zwischen allen Intensivpatienten
Prinzipiell muss der Patient außerdem in die Behandlung einwilligen. Das kann zum Beispiel im Rahmen einer Patientenverfügung festgehalten sein.
Wichtig für das System der Triage: Die Empfehlungen der Fachgesellschaften beziehen sich nicht nur auf Covid-19-Patienten. Die Entscheidung, wer priorisiert behandelt wird, fällt vielmehr zwischen allen Patienten, die eine Intensivbetreuung benötigen. Das heißt, es wird in Kliniken kein bestimmtes Kontingent an Beatmungsgeräten geben, das nur Covid-19-Patienten zur Verfügung steht.
Artikel Abschnitt: Wie sieht es in den Nachbarländern aus?
Wie sieht es in den Nachbarländern aus?
Österreich: Im März 2020 hat die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) sogenannte "Klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei COVID-19-PatientInnen“ veröffentlicht. Wichtigstes Kriterium für die Triage ist die kurzfristige Überlebensaussicht des Patienten. Komorbiditäten verschlechtern die Chance auf Behandlung. Generell folgen die Empfehlungen den ethischen Prinzipien von Gerechtigkeit, Nichtschaden (für das Gesundheitssystem), Wohltun (für den betroffenen Patienten) und Autonomie (Respekt gegenüber der anvertrauten Person).
Frankreich: Am 3. April 2020 hat die Société Française d'Anesthésie et de Réanimation (SFAR) entsprechende Empfehlungen für die Priorisierung von Patienten herausgegeben. Auch hier ist das Ziel, möglichst viele Leben mit begrenzten Ressourcen zu retten. Als Kriterien gelten aktueller Zustand und Prognose des Betroffenen, der Patientenwille, Komorbiditäten sowie die vorherige Verfassung.
Italien: Die Società Italiana di Anestesia Analgesia Rianimazione e Terapia Intensiva (SIAARTI) hat bereits am 16. März 2020 ethische Empfehlungen veröffentlicht. Das Besondere am Ansatz der Italiener ist, dass sie nicht möglichst viele Menschen, sondern möglichst viele Lebensjahre retten wollen. Damit wird neben dem aktuellen Zustand und möglichen Komorbiditäten auch das Alter eines Patienten zum entscheidenden Kriterium. Eine feste Altersgrenze wird in den Empfehlungen nicht gezogen, es heißt aber, dass ultimativ eine festgelegt werden müsse.
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Was sagen die Leitlinien dazu, wenn es keinen freien Platz mehr gibt und ein neuer Patient dazukommt, der eine gute Überlebenschance hätte? Wird dann ein Patient mit schlechten Chancen von der Intensivstation auf ein Normalbett verlegt? Wem kann man zumuten einen Patienten auszuwählen, den man bewusst sterben lässt, damit eine… Weiterlesen »
Lol sehr interessant
Es handelte sich die ganze Zeit um falsche Zahlen bei den Auslastungen: https://www.youtube.com/watch?v=GHhD5NoCq40
Das Thema ist schon länger virulent und wird unterschiedlich bewertet. Hier zu ein Thread von heute, der das verdeutlicht: https://twitter.com/m_grill/status/1402864606788390921?s=20
„Das hat das Bundesverfassungsgericht im August 2020 auch noch einmal bestätigt.“ Auf welche Entscheidung wird hier Bezug genommen?
Das müsste diese sein: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-074.html
Werden Schwangere im Falle einer Entscheidung bevorzugt?
Lässt sich so einfach nicht beantworten. Laut einem Tagesschau-Bericht über die Trierer Betreuungsrichterin Poser, die gegen die Triage geklagt hatte, sehen die DIVI-Leitlinien vor, dass nach Überlebenschancen beurteilt wird. Wenn also die Schwangere und ihr Kind auf Grund von multiplen Komplikationen eine schlechtere Überlebenschance haben, als der Single-Mann ohne Komplikationen,… Weiterlesen »