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Rückschaufehler
Darum halten wir uns im Nachhinein für schlauer
Wir können die Zukunft schlechter voraussagen, als wir glauben. Diese Selbstüberschätzung ist teils fatal.
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Artikel Abschnitt: Was ist der Rückschaufehler?
Was ist der Rückschaufehler?
Diese Art der Besserwisserei basiert auf einer typisch menschlichen Fehleinschätzung: dem Rückschaufehler – in der Fachliteratur auf Englisch: hindsight bias. Nach einer plötzlichen Wende der Ereignisse glauben wir, es schon von Anfang an geahnt zu haben – auch wenn das gar nicht stimmt. Zum Beispiel bei einer Firmenpleite oder einem überraschenden Wahlergebnis. Im Lichte der inzwischen bekannt gewordenen Tatsachen verändert sich die Erinnerung an unsere frühere Einschätzung der Lage.
Wir halten unsere Vorhersagen für besser, als sie sind
Der Rückschaufehler ist inzwischen gut belegt. So ließ ein Team um den Psychologen Hartmut Blank von der Universität Leipzig 56 Deutsche das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 prognostizieren. Die Teilnehmenden sollten dafür im Juni einen Tipp abgeben, wie viele Stimmen die einzelnen Parteien bei der Wahl im September erhalten würden. Ende Oktober – vier Monate nach ihrer Prognose – fragten die Forschenden erneut nach ihrer Einschätzung im Vorfeld der Wahl. Die Teilnehmenden konnten sich offensichtlich nicht mehr richtig daran erinnern: Ihre Prognose bewegte sich in der Rückschau klar in Richtung des tatsächlichen Ergebnisses. Hatten die Proband:innen der SPD zuvor im Schnitt 37 Prozent der Stimmen zugeschrieben, waren sie nach deren Wahlsieg mit 40,9 Prozent überzeugt, 39 Prozent geschätzt und damit ziemlich richtig gelegen zu haben.
Auch wenn es hier nur um wenige Prozentpunkte geht – den Effekt konnten viele Studien belegen. Forschende kamen etwa zu einem ähnlichen Ergebnis, als sie Probandinnen und Probanden die Höhe des Eiffelturms schätzen ließen. Nachdem diese erfuhren, dass er 300 Meter misst, glaubten sie, mit ihrer Schätzung näher an der Lösung gelegen zu haben als tatsächlich. Je länger der Abstand zwischen der ersten und zweiten Befragung bei Untersuchungen dieser Art ist, desto größer ist der Effekt.
Das funktioniert aber nicht nur, wenn es um Zahlen geht. Lernen Versuchspersonen überraschende Fakten, etwa dass Aladin laut der ursprünglichen Erzählung Chinese war, glauben sie teils, das bereits gewusst zu haben – selbst wenn das aufgrund der Unbekanntheit des Fakts unwahrscheinlich ist.
Artikel Abschnitt: Wie kommt es zum Rückschaufehler?
Wie kommt es zum Rückschaufehler?
- Man erinnert sich nicht mehr richtig an die ursprüngliche Prognose.
- Im Nachhinein erscheint das Ereignis leichter vorhersagbar.
- Im Nachhinein erscheint es unumstößlich, dass es so kommen musste.
Die Erinnerung an unsere ursprüngliche Einschätzung schwindet mit der Zeit, ohne dass uns das bewusst ist. Stattdessen betreibt das Gedächtnis Geschichtsfälschung und aktualisiert unsere Vorhersage anhand dessen, was wir jetzt wissen. Die neue Faktenlage überlagert dabei frühere Informationen zum Thema. Da wir davon nichts mitbekommen, hat es für uns den Anschein: Das habe ich doch schon immer gewusst.
Artikel Abschnitt: Wer ist anfällig für den Rückschaufehler?
Wer ist anfällig für den Rückschaufehler?
Auch bei Menschen mit Schizophrenie ist der Rückschaufehler ausgeprägter. Bei dieser Störung kommt es zu Veränderungen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, wobei Betroffene zwischenzeitlich den Sinn für die Realität verlieren. Früheres Wissen ist bei ihnen weniger fest verankert, sodass neue Informationen dieses besonders stark überlagern können.
Artikel Abschnitt: Wo schadet der Rückschaufehler?
Wo schadet der Rückschaufehler?
Beispiel 1: Eine Managerin stellt einen neuen Mitarbeiter aufgrund seines soliden Lebenslaufs und einer Empfehlung des vorherigen Arbeitgebers ein. Nach einigen Monaten beginnt sie, ihre Entscheidung zu bereuen: Der Angestellte verpasst ständig Fristen und macht schwerwiegende Fehler. Als dem Mitarbeiter gekündigt wird, untersucht ein Gremium die Entscheidung der Managerin. Das Team glaubt, verschiedene Warnzeichen in der Vita des damaligen Bewerbers zu entdecken, und zieht die Managerin daraufhin von allen Personalentscheidungen ab. Hätte sie es nicht ahnen müssen?
Beispiel 2: Eine Patientin verklagt ihren Arzt. Der hatte auf einem Röntgenbild, das selbst für geschulte Augen auf den ersten Blick unauffällig wirkt, einen Tumor übersehen. Eine Radiologin wird vor Gericht hinzugezogen. Auf Grundlage des alten und eines aktuellen Bildes, auf dem der Tumor schon klar erkennbar ist, kommt sie zu dem Schluss: Der Arzt hätte den Tumor schon damals sehen müssen. Das Gericht verurteilt ihn zu Schadensersatz.
Oft meinen wir nur, wir hätten es besser gewusst als andere
Klar machen Menschen Fehler, für die sie geradestehen müssen. Manchmal tun wir ihnen aber unrecht, indem wir einen Rückschaufehler begehen. Das gilt etwa auch immer dann, wenn ein Gericht entscheiden muss, ob jemand fahrlässig gehandelt hat. Fahrlässig kann nur handeln, wer die möglichen Folgen erahnen konnte. Im Nachhinein scheint es immer auf der Hand zu liegen, dass das schiefgehen musste. Wären wir anstelle des oder der Angeklagten gewesen, hätten wir es aber vielleicht auch nicht besser gewusst. Damit Juristinnen und Juristen nicht in solche Denkfallen tappen, ist es sinnvoll, sie psychologisch zu schulen. Im Fall des Rückschaufehlers haben sich entsprechende Versuche aber leider als wenig wirksam erwiesen. Er ist sehr hartnäckig und tritt auch dann noch auf, wenn man über ihn Bescheid weiß.
Über den/die AutorIn:
Open AI hat jetzt Rewind herausgebracht. Alles, was wir je in einem Meeting gesagt, alles wir je geschrieben haben, wird aufgezeichnet, wenn wir möchten, und ist durchsuchbar. Man kann zurückspulen, um nachzusehen, was man damals glaubte, wie bei einem Spielfilm. Das könnte zu neuen, spannenden Erfahrungen mit den eigenen Rückschaufehlern… Weiterlesen »