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Gesellschaft
Hinsehen bei Unfällen
– darum gaffen wir
– darum gaffen wir
Glotzen, starren, filmen – eigentlich ein No-Go, wenn es um Menschen in Not geht. Noch schlimmer, wenn Gaffer:innen sogar die Arbeit von Rettungskräften behindern. Doch woher kommt der Drang, genau hinzusehen?
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Artikel Abschnitt: Darum geht’s:
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Hinschauen ist ein natürlicher Impuls
Hintergrund ist ein Experiment der Quarks-Onlineredaktion. Wir wollten herausfinden, wie sehr Menschen ihr Verhalten dem von anderen Menschen anpassen: Glotzen sie – nur weil andere es tun? Die erste kleine Gruppe bestand darum aus Lockvögeln. Der Versuch zeigt: Wo es scheinbar etwas zu sehen gibt, da haben viele Menschen den Drang, selbst zu schauen, was so spannend ist. Das Hinschauen scheint also instinktives menschliches Verhalten zu sein. Woran liegt das?
Wir sind neugierig
“Alle Säugetiere und auch wir haben eine grundlegende Neugier und das ist Voraussetzung und Antrieb des Lernens”, sagt die Diplom-Psychologin und Kriminologin Dr. Ursula Gasch. Als langjährige psychologische Beraterin der Polizei Baden-Württemberg hat sie unter anderem Angehörige und Opfer von Gewaltverbrechen betreut und dabei oft erlebt, wie unbeteiligte Menschen aus Sensationslust persönliche Grenzen verletzen. Doch hätten wir grundsätzlich keine Lust darauf, Neues zu lernen und auszuprobieren, gäbe es wohl weder das Rad noch Röntgengeräte oder Smartphones.
Das Belohnungssystem unseres Gehirns reagiert auf jede neue Information mit einem Dopaminstoß, ähnlich wie bei leckerem Essen oder einem Lob. Dabei gilt: Je schneller wir die Antwort auf brennende Fragen bekommen, umso besser. Zusätzlich lernen wir durch Beobachtung: Sehen wir, dass jemand von einer wackeligen Leiter fällt, wollen wir diese Erfahrung nicht machen und vermeiden wackelige Leitern in Zukunft lieber.
“Stellvertretendes Lernen” nennt sich das. Es bedeutet, “nicht selber in eine Situation geraten zu müssen, um das zu erleben, was der andere Mensch gerade durchmacht”, erklärt Gasch. Um zu wissen und uns zu merken, dass wackelige Leitern gefährlich sein können, müssen wir also nicht selbst hinunterfallen.
Der Notfallmodus heißt Hinschauen
Wenn etwas Außergewöhnliches geschieht, wollen wir instinktiv die Situation verstehen und herausfinden, ob uns Gefahr droht. “Hinwenden in solchen Fällen ist etwas, das man kaum kontrollieren kann. Das ist erklärbar und natürlich”, sagt der Psychologe und Krisenberater Michael Thiel.
Nehmen wir an, direkt vor uns passiert ein Verkehrsunfall. Der Reiz, beispielsweise Lärm oder das Bild der kaputten Autos, wird direkt an die Amygdala geleitet, einen ursprünglichen Teil des Gehirns. Ohne Umweg über den Neocortex, also das Bewusstsein, landet das Signal dann in der Hormonproduktionsstätte Hypophyse. In der Folge machen wir uns bereit für Angriff, Flucht oder Verteidigung: Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol schießen in die Höhe, unser Körper ist reflexartig im Notfallmodus.
Wir versuchen, uns zu schützen
Wir reagieren also unbewusst und instinktiv. Im Fall des Verkehrsunfalls bedeutet das beispielsweise: Sitzen wir selbst im Auto dahinter, bremsen wir und versuchen, uns zu schützen. Kommen wir schließlich zum Stehen, kontrollieren wir zunächst, ob uns etwas passiert ist. Dann halten wir Ausschau nach weiteren Gefahren.
Als soziale Wesen sorgen wir uns um Mitmenschen
Zusätzlich sind wir aber auch sozial. Es liegt uns in den Genen, uns um andere zu sorgen, sagt der klinische Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke. Seit 1999 betreut er Opfer von Unfällen, Anschlägen und Katastrophen bei Einsätzen vor Ort. “Wir Menschen haben lange in Gruppen und Verbänden gelebt und wir können nicht ohne die Herde überleben”, erklärt er. Darum fragen wir uns bei einem Unfall außerdem: Ist jemand weiteres betroffen und braucht unsere Hilfe? Vor diesem Hintergrund ist der Impuls, sich umzusehen und die Lage zu erkunden, wichtig und gut. Denn wer nicht hinschaut, kann auch nicht helfen.
Haben wir geprüft, ob wir oder ein anderer Mensch Hilfe brauchen und keine Gefahr mehr besteht, sinken die Stresshormone langsam ab. Der Körper kommt zurück in seinen Normalzustand. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt, den Ort des Geschehens zu verlassen. Manche tun das aber nicht.
Ab welchem Punkt werden wir zum Gaffer/zur Gafferin? “In dem Moment, wo ich nicht frage, ob ich helfen kann, sondern anfange zu denken: Hier bleibe ich noch ein bisschen länger, das könnte interessant werden”, stellt Michael Thiel klar. Das widerspräche allen natürlichen Reaktionen wie Flucht oder Angriff.
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Darum müssen wir drüber sprechen:
Gaffer:innen behindern Rettungskräfte und traumatisieren Opfer
In manchen Fällen greifen Gaffer:innen Polizei, Feuerwehr oder Sanitäter:innen sogar an, verletzen sie und verzögern die Hilfe. Angestarrt und gefilmt zu werden verstört die Opfer sehr – sie fühlen sich hilflos, gedemütigt und bloßgestellt. Tauchen Bilder von Unfällen später im Netz auf, retraumatisieren diese die Opfer und auch die Angehörigen: Niemand möchte aus dem Internet erfahren, dass ein geliebter Mensch verletzt oder tot ist oder ständig daran erinnert werden.
Gaffer:innen bringen durch ihr Verhalten auch sich und andere in Gefahr: Immer wieder entstehen Staus auf der Autobahn, weil auf der Gegenfahrbahn etwas passiert ist – ein hohes Risiko für zusätzliche Unfälle. Bringen sich Gaffer:innen aus Sensationslust in eine gefährliche Lage, weil sie zum Beispiel Absperrungen übersteigen, benötigen sie im schlimmsten Fall selbst Hilfe. Das kostet die Rettungskräfte Zeit und Ressourcen, die sie für die eigentlichen Opfer brauchen.
Keine Frage, das Gaffen und womöglich noch das Filmen sind nicht akzeptabel. Dennoch kommt es immer wieder vor. Was treibt Menschen dazu?
Die Sucht nach dem Kick
Unser Nervensystem verarbeitet ständig Reize von außen. Passiert einmal nicht so viel um uns herum, ist uns eventuell langweilig. Für manche Menschen ein unaushaltbarer Zustand, den sie schnell beenden wollen, am besten durch einen Adrenalinschub. Und hier setzt nichts mehr Dopamin im Gehirn frei als ein reales Geschehen. “Reality strikes fiction”, sagt Michael Thiel. “Ein realer Unfall, wo Menschen zu Schaden gekommen sind, ist für einen Adrenalinjunkie unvergleichbar.” Für ihn sind gerade “sensation seekers”, deren Nervensystem schon sehr starke Reize braucht, um zu reagieren, potenzielle Gaffer:innen.
Diese Gewöhnung an starke Dopaminkicks ist fatal, sagt Dr. Gasch: "Wenn ich, um das gleiche Gefühl erlangen zu können, ein deutliches Mehr an Thrill brauche, ist das ein bedeutendes Merkmal von Sucht", sagt Dr. Gasch. Denn nicht nur ein Stoff, sondern auch ein Verhalten – in diesem Fall das Gaffen – kann süchtig machen.
Hierzu hat Dr. Gasch eine weiterführende Theorie: Keine Sucht ohne Entzugserscheinungen – muss das Gehirn ohne Kick auskommen, dann werden wir aggressiv. Bei Alkohol- und anderen Drogenabhängigen ist das ein bekannter Mechanismus. Hält nun beispielsweise ein Polizist einen Gaffer von seiner "Droge", dem Gaffen, fern, geht dieser unter Umständen auf den Polizisten los. Diese These ist noch nicht erforscht, Dr. Gasch hält sie aber für plausibel.
Die Sucht nach Anerkennung
Unser Belohnungssystem im Gehirn wird stimuliert, wenn wir positive Dinge über uns selber preisgeben. Sich selbst als Abenteurer mitten im Geschehen darzustellen, ist darum für viele verlockend. Kaum hat man dann das Video vom zerquetschten Lkw bei einem sozialen Medium der Wahl gepostet, kriegt man die ersten Reaktionen und Kommentare.
Für die Expert:innen ist das ein Zeichen für wenig Selbstachtung und Empathie und ein Weg, Aufmerksamkeit zu bekommen, egal ob positiv oder negativ. Ein Gaffer hat es Dr. Lüdke gegenüber so geäußert: "Im normalen Leben bin ich ein Niemand, im Internet bin ich jemand." Ähnlich formuliert es Michael Thiel: "Lieber ein bekanntes Schwein als ein unbekanntes Nichts." Das stellvertretende Lernen spielt dann auch wieder eine Rolle, meint Dr. Gasch. "Wenn ich sehe ‘boah, der kriegt ganz viele Likes’, dann mache ich das Gleiche."
Auch wenn viele eigentlich wissen, dass sie sich falsch verhalten, ist der Drang nach dem schnellen Kick oft stärker. Für das Hochladen von Videos gilt das Gleiche: "Die Likes, die man bekommt, sind kurzfristig betrachtet so toll und befriedigend, da denke ich nicht daran, was mir blühen kann", erklärt Dr. Gasch.
Wenn alle es machen, kann es ja nicht so schlimm sein
Je mehr Menschen etwas tun, umso weniger verwerflich kommt es dem Einzelnen vor. Wenn eine Gruppe sich um eine verletzte Person stellt und sie begafft oder filmt, wird dieses objektiv schlechte Verhalten für eine Einzelperson immer “normaler”: Die Verantwortung verteilt sich in der Gruppe, alle fühlen sich weniger schuldig und weniger verantwortlich, etwas gegen das Gaffen zu unternehmen.
Bekannt geworden ist dieser "Zuschauereffekt" durch die Vergewaltigung und den Mord an Kitty Genovese 1964 in New York. Mindestens 38 Zeugen bekamen den Überfall auf sie mit, keiner kam ihr zu Hilfe. Seither haben viele Studien diesen Effekt der Verantwortungsdiffusion in Gruppen bestätigt.
Gleichzeitig steigt für uns die Hemmschwelle, etwas gegen eine Gruppe zu unternehmen, je größer sie wird. Wir sind sozial. Daher riskieren wir nicht gern, auf einmal viele andere gegen uns zu haben, vor allem nicht, wenn sie uns aggressiv vorkommen.
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Wegschauen ist nicht die Lösung
Selbstverständlich ist das nicht: Einer Umfrage zufolge hat jeder Zweite Bedenken, Erste Hilfe zu leisten, aus Angst, etwas falsch zu machen. Das ist fatal. Denn die ersten Minuten sind bei einem Notfall entscheidend: Je schneller wir helfen, desto größer sind die Chancen für den Patienten oder die Patientin, wieder ganz gesund zu werden. Die Herzdruckmassage ist dabei das wichtigste Mittel, selbst wenn wir dabei zum Beispiel Rippen verletzen, ist das auf jeden Fall das kleinere Übel. Denn schon nach etwa fünf Minuten ohne Sauerstoff kann unser Hirn irreparabel geschädigt sein. Wegschauen ist darum keine Lösung.
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Gaffen stärker hinterfragen und wenn möglich eingreifen
Strafen müssen rasch erfolgen
Expert:innen sind sich darin einig, dass Gaffen schnell und hart bestraft werden muss. Dazu wurde 2021 der Bußgeldkatalog angepasst. So steht nun auch das Anfertigen von Fotos oder Filmen von Unfallopfern, die zu Tode gekommen sind, explizit unter Strafe.
Das Androhen von Bestrafungen, wie beispielsweise eine Geldstrafe oder Führerscheinentzug, ist eine Strategie, die auch schon bei der Einführung der Gurtpflicht gut funktioniert hat. Wichtig dabei: Die Strafe muss wirklich rasch kommen. “Strafen fruchten nur dann, wenn sie zeitnah zum Verhalten erfolgen, sonst wird der Zusammenhang nicht richtig gekoppelt”, erklärt Dr. Gasch.
Die Lernpsychologie zeigt, dass angedrohte Sanktionen nur dann erfolgreich sind, wenn die Täter:innen erwarten, sehr wahrscheinlich entdeckt und dann schnell und konsequent verfolgt zu werden. Das Strafmaß an sich ist dann gar nicht mehr so entscheidend. Dr. Gasch plädiert dafür, moderne Technik wie Drohnen einzusetzen, um Gaffer:innen zu identifizieren und die Rettungskräfte vor Ort zu entlasten. Auch wird bereits ein Warnsystem via QR-Code an Rettungsfahrzeugen getestet. Erfasst das Smartphone eines Gaffers oder einer Schaulustigen das Fahrzeug, erkennt die Kamera den QR-Code und zeigt die Warnung: “Achtung! Gaffen tötet! Es kann Rettungskräfte behindern und zur Straftat werden.”
Schon Kinder sollten lernen, wie man sich richtig verhält
Langfristig ist der beste Weg für die Expert:innen aber Aufklärung und Prävention: Sie setzen darauf, schon früh in der Schule, im Elternhaus und besonders in der Fahrschule und im Erste-Hilfe-Kurs aufzuklären. Alle sollen immer wieder hören, dass Gaffen und Behindern nicht gewünscht sind und schwere Folgen haben können, für Opfer und für Täter:innen.
Videos müssen zügig gelöscht werden
Provider und Plattformen sollten dazu verpflichtet werden, Gaffervideos schnell zu löschen. Eine weitere Strategie ist, die allgemeine Medienkompetenz zu stärken. Das bedeutet, dass wir lernen sollten, alle Medien – und insbesondere die Neuen Medien wie soziale Netzwerke – zu verstehen und kompetent und kritisch zu benutzen. Dazu gehört auch ein ethischer und sozialer Standard: Wer weiß, an welcher Stelle durch ein Video persönliche Rechte oder Gefühle verletzt werden, der kann im Idealfall verantwortungsvoller handeln. Er teilt die Inhalte nicht, sondern hinterfragt sie oder meldet sie sogar. Geringe Medienkompetenz tritt auch sehr häufig im Zusammenhang mit Cyberbullying auf.
Gaffer:innen direkt ansprechen
Bin ich alleine und sehe Menschen, die durch Gaffen behindern, sind sich die Expert:innen über das richtige Vorgehen einig: die Menschen ansprechen und ihnen spiegeln, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. Eine weitere Strategie, mit der Rettungskräfte arbeiten, ist es, die Zuschauenden einzubinden, zum Beispiel so: “Packen Sie Ihr Handy weg, ich habe eine Aufgabe für Sie!”
Dr. Gasch hat noch einen weiteren Tipp: “Als Privatperson kann man auch mit gutem Beispiel vorangehen. Man könnte sagen: Hier können wir nicht helfen, wir sollten dafür sorgen, dass die Leute ihre Arbeit machen können, und weitergehen. Das wäre dann ein Appell.”
Konfrontation ist möglich, aber Selbstschutz geht vor
Auch Konfrontation, ähnlich wie der Polizist Stefan Pfeiffer es instinktiv gemacht hat, halten alle für sinnvoll, online genau wie offline. “Es ist wichtig, in der Gesellschaft ein Klima zu schaffen, dass solches Verhalten nicht gewünscht wird”, sagt Dr. Gasch. “Zu zeigen: Dafür kriegst du von uns kein Like, sondern eins auf die Mütze.”
Allerdings ist Regel Nummer eins der Selbstschutz: “Man sollte sich nicht in Gefahr bringen, weil solche Leute ja sogar Rettungskräfte angreifen”, erklärt Michael Thiel. Wir sollten also helfen, aber aufpassen, nicht selbst zum Opfer zu werden.
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Liebes Quarks-Team, in diesem Artikel wird leider erneut die Situation um den Mord von Kitty Genovese 1964 in New York falsch dargestellt. Es waren nicht 38 Zeugen, die das Verbrechen mitbekommen haben, sondern lediglich 38 Befragte Personen, von denen einige geschlafen haben. Warum wird aber diese Falschdarstellung so unkritisch weiterverbreitet?… Weiterlesen »
Der Artikel ist wegen diesem albernen Gegendere nicht vernünftig lesbar. Ich hatte keine Lust weiterzulesen. Furchtbar!
Ganz klar, wenn Gaffer die Grenze überschreiten und durch ihr Verhalten sogar noch Stau auf der Gegenfahrbahn erzeugen und dadurch auch volkswirtschaftlichen Schaden anrichten weil wichtige Termine platzen, indem Projekte gefährdet sind, sollten diese meiner Meinung nach sofort erfasst und bestraft werden durch hohe Geldstrafen oder Führerscheinentzug. Das gilt auch… Weiterlesen »