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Urteil gegen Caster Semenya
So fragwürdig ist die Testosteron-Regel
Kein Start ohne Medikamente – denn zu viel Testosteron im Blut verleiht Leichtathletinnen einen ungerechten Vorteil, so der Sportgerichtshof. Es gibt harte Kritik: medizinisch und ethisch.
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Artikel Abschnitt: Darum geht's:
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Läuferinnen mit viel Testosteron im Blut können von Wettbewerben ausgeschlossen werden
Der Fall ist komplex. Leicht vereinfacht zielt die Regel auf Athletinnen, die ein X und ein Y-Chromosom besitzen, also genetisch männlich sind und entsprechend mehr Testosteron produzieren. Durch fehlende Enzyme etwa oder eine veränderte Hormonaufnahme ihrer Zellen verläuft deren Geschlechtsentwicklung aber nicht typisch männlich – sie sind also intersexuell.
Athletinnen, die in diese Kategorie fallen, dürfen bei internationalen Wettkämpfen nur dann starten, wenn ihr körpereigenes Testosteron einen Grenzwert von 5 Nanomol pro Liter Blut nicht überschreitet. Für mindestens 6 Monate vor einem Wettkampf müssen sie ihren Testosteronspiegel mit Medikamenten absenken – und ihn dann so lange abgesenkt halten, bis sie nicht mehr bei betroffenen Wettkämpfen starten wollen.
Allerdings gilt diese Regel nicht für alle Disziplinen, sondern ausschließlich für die Laufwettkämpfe von 400 Metern bis zu einer Meile. Als 800-Meter-Spezialistin ist Caster Semenya also betroffen. Sie und ihr Verband klagten gegen die Regel, weil sie "diskriminierend", "unnötig", "nicht verlässlich" und "unverhältnismäßig" sei. Darum solle sie für ungültig erklärt und aufgehoben werden.
Die Richter des Internationalen Sportgerichtshofs CAS bestätigen sogar, dass die Regel diskriminierend sei. Auf Basis der vorgelegten Beweise sei diese Diskriminierung aber ein "notwendiges, vernünftiges und angemessenes Mittel", um die Integrität des Sports in den betroffenen Disziplinen zu erhalten.
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Es ist ein emotional aufgeladener Konflikt
Knapp zwei Jahre später, am 1. Mai 2011, führte die IAAF die so genannte Regel für "Frauen mit Hyperandrogenämie" ein, also einem Überschuss an männlichen Hormonen. Damals legten sie den Grenzwert auf maximal 10 Nanomol körpereigenes Testosteron pro Liter Blut fest. Dagegen klagt jedoch die indische Sprinterin Dutee Chand vor dem CAS, auch sie hat einen erhöhten körpereigenen Testosteronspiegel und ist von der Regel betroffen. Chand gewinnt, die IAAF muss die Regel zurücknehmen. (Näheres zur Geschichte von Dutee Chand findet ihr in diesem Quarks-Film.)
Die Richter begründen ihre Entscheidung mit dem Mangel an wissenschaftlichen Studien. Sie sehen keine ausreichenden Belege dafür, dass der erhöhte körpereigene Testosteronspiegel tatsächlich einen unfairen Vorteil in Wettkämpfen bringt. Die IAAF gibt daraufhin mehrere Studien in Auftrag, die 2017 und 2018 erscheinen. Sie sollen die nötigen Beweise liefern. In einer der Hauptstudien analysieren Forscher Ergebnisse und Hormonwerte von Teilnehmerinnen der WM 2011 in Daegu und 2013 in Moskau. Die Erkenntnis: Erhöhte Testosteronwerte bringen bei bestimmten Disziplinen Vorteile zwischen 1,8 und 4,5 Prozent.
Auf Basis dieser Ergebnisse überarbeitet die IAAF die Regel. Jetzt gilt sie nur noch für Athletinnen mit der oben beschrieben „unterschiedlichen Sexualentwicklung“, der neue Grenzwert liegt bei 5 Nanomol und betroffen sind nur noch die Mittelstrecken-Wettbewerbe von 400 Metern bis eine Meile. Da Dutee Chand 100- und 200-Meter-Läuferin ist, gilt die Regel für sie nicht mehr. Aber für Caster Semenya.
Artikel Abschnitt: Darum müssen wir darüber sprechen:
Darum müssen wir darüber sprechen:
Es gibt erhebliche Kritik – medizinisch und ethisch
Tatsächlich ist die Sache deutlich komplizierter. Kritiker erheben zum Teil schwere Vorwürfe – aus wissenschaftlicher, medizinischer und ethischer Sicht. Die wichtigsten Argumente im Detail:
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1. Es gibt massive Zweifel an den Studien
Laut ihrer Überprüfung sind zwischen 17 und 33 Prozent der Daten dieser Studie fehlerhaft. Sie finden doppelt gezählte Athletinnen und Zeiten – wie auch Zeiten, die sich keiner Athletin zuordnen lassen. Zudem nutzten die Autoren Zeiten von Athletinnen, die wegen Dopings disqualifiziert worden waren. Pielke und seine Kollegen fordern, das "British Journal of Sports Medicine" solle die Veröffentlichung zurückziehen.
Das passiert nicht. Aber die Autoren der kritisierten Arbeit reagieren: 2018 veröffentlichen sie eine überarbeitete Version, in der sie auf die Vorwürfe von Pielke und anderen Forschern eingehen. Sie bestätigen darin Unregelmäßigkeiten in der ursprünglichen Fassung. Die grundsätzliche Aussage zu den Leistungsvorteilen bleibt aber auch in der überarbeiteten Fassung bestehen.
Aber auch die enthalte immer noch Unregelmäßigkeiten, so Roger Pielke, der sich auch in einem Blog auf seiner Internetseite ausführlich mit dem Thema befasst. Er sieht durch den Fall die "Integrität der Wissenschaft gefährdet".
Tatsächlich sieht auch der CAS Probleme mit der Beweislage, zumindest für zwei der betroffenen Disziplinen. Die Richter sehen einen "Mangel an Beweisen", um die Anwendung der Regel auf die Strecken 1500 Meter und eine Meile rechtfertigen zu können. Die Richter empfehlen, die Regel auf die beiden Disziplinen erst anzuwenden, wenn mehr Beweise vorliegen. Die Entscheidung darüber überlassen sie aber den IAAF-Funktionären. Der Internetseite Sports Integrity Initiative sagte ein IAAF-Sprecher dazu, dass man diese Empfehlung überdacht hätte und entschieden hätte, "sie zu ignorieren".
Für Caster Semenya, die auch über 1500 Meter startet, ist das ein weiterer Beleg für ihre Vermutung, dass die Regel vor allem auf sie persönlich zugeschnitten sein soll.
Weitere Fehler entdeckt
Der Sportwissenschaftler Ross Tucker von der University of Cape Town in Südafrika betont im Onlinemagazin The Science of Sports weitere, ganz grundsätzliche Ungereimtheiten. Er weist beispielsweise darauf hin, dass die Studie nicht nur fehlerhaft sei, sondern auch gar nicht explizit intersexuelle Athletinnen mit nicht intersexuellen Athletinnen vergleicht. Tatsächlich vergleicht die Studie Leistungen von Athletinnen mit niedrigem und hohem Testosteronspiegel. Tucker findet es fragwürdig, dass auf dieser Basis eine so weitreichende Regel eingeführt wird, die sich explizit auf eine Gruppe Athletinnen bezieht.
Auf Anfrage weist die IAAF hierzu auf Daten hin, die mit der früheren "Testosteron-Regel" zusammenhängen, die von 2011 bis 2015 galt. In dieser Zeit mussten betroffene Athletinnen, zu denen auch Caster Semenya gehörte, ihren erhöhten Testosteronspiegel mit Medikamenten senken. Die Daten liefern also Informationen über die Leistung der Athletinnen vor, während und nach der Einnahme von Testosteronsenkern.
Caster Semenya war zwischen 2011 und 2015 langsamer als in den Jahren davor und danach – allerdings litt sie in dieser Zeit auch an einer Knieverletzung. Von wie vielen anderen Athletinnen vergleichbare Daten vorliegen, hält die IAAF geheim, zum Schutz der betroffenen Sportlerinnen. Intime und medizinische Details sollen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. In einer der IAAF-Studien heißt es aber, es gebe eine statistische Häufung von Athletinnen mit XY-Chromosomen in den relevanten Wettkämpfen: "7,1 von 1000 Spitzensportlerinnen haben erhöhte Testosteronwerte – die Mehrheit davon in den Disziplinen 400 Meter bis eine Meile. Das ist etwa 140 Mal mehr als in der restlichen weiblichen Bevölkerung."
Die Geheimhaltung funktioniert aber nur bedingt, wie Recherchen der ARD-Dopingredaktion zeigen. Darin heißt es: "Recherchen der ARD-Dopingredaktion haben ergeben, dass weit mehr Athletinnen betroffen sind, als bisher durch die auf Semenya beschränkte öffentliche Diskussion vermuten lässt. Von neun Athletinnen mit abweichender sexueller Entwicklung, deren Dokumentation die ARD-Dopingredaktion kennt, weisen fünf nahezu exakt identische hyperandrogene Faktoren auf wie Semenya."
Die Beweislage ist fragwürdig
Ein weiterer Aspekt, über den unabhängige Wissenschaftler stolpern, ist die Begrenzung der Regel auf die Strecken 400 Meter bis eine Meile. Patrick Diel, Biochemiker und Dopingexperte an der Kölner Sporthochschule, sagt dazu: "Der Testosteronspiegel hat vor allem auf Strecken Einfluss, wo Kraft und Schnelligkeit dominieren." Dazu gehörten natürlich auch die 100 und 200 Meter.
Er weist in dem Zusammenhang auf ein grundsätzliches Problem der Studien hin. Es sei kaum möglich, andere Einflussfaktoren komplett auszuschließen. Mit anderen Worten: Es ist kaum möglich zu beweisen, dass das Testosteron alleine für die Leistungsunterschiede verantwortlich ist.
Testosteron alleine macht auch noch keine Weltmeisterin. Das zeigt das Beispiel der Inderin Dutee Chand. Trotz Hyperandrogenämie schied sie bei den Olympischen Sommerspielen 2016 bereits im Vorlauf aus und war knapp eine Sekunde langsamer als die Olympiasiegern. Und offenbar stechen auch die Leistungen der anderen Athletinnen mit Hyperandrogenämie nicht so deutlich heraus wie die von Caster Semenya. Zumindest nicht so sehr, dass sie öffentlich Thema werden.
Trotz aller Ungereimtheiten findet Diel die Entscheidung des Gerichts dennoch auch als Wissenschaftler "nachvollziehbar". Als Dopingexperte weiß er, welche Bedeutung das Hormon im Spitzensport hat. Aus Sicht der Konkurrentinnen sei es einfach unfair, wenn Frauen mit erhöhtem Testosteronspiegel starten dürften – auch wenn die Erhöhung natürlich ist. "Wenn die anderen Frauen Testosteron nehmen würden, um in den Bereich von Frau Semenya zu kommen, würden sie wegen Dopings gesperrt."
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2. Nicht nur Hormone bieten körperliche Vorteile
Dass Caster Semenya einen erhöhten Testosteronspiegel im Blut hat, liegt im Grunde auch an ihrer körperlichen Ausstattung. Wo ist also der Unterschied – warum wird das eine reguliert, das andere nicht?
Die IAAF argumentiert, dass die Integrität des Frauensports gewahrt bleiben müsste. Das Argument bezieht sich auf die grundsätzliche Trennung zwischen Wettkämpfen für Männer und Wettkämpfen für Frauen. Dass Männer nicht bei den Frauen antreten dürfen, scheint erstmal logisch. Die Umsetzung erfordert aber, dass die Geschlechterfrage im Sport geklärt sein muss, es also eine Trennlinie zwischen männlich und weiblich geben muss. Das Problem: Die Biologie kennt diese Trennlinie nicht – der Übergang zwischen typisch männlich und typisch weiblich ist nicht scharf, sondern fließend.
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3. Hormontherapie birgt unnötige Risiken
Laut IAAF reichen "normale Verhütungsmittel", um den Hormonspiegel auf den geforderten Wert zu senken. Abgesehen davon, dass auch Verhütungsmittel wie die Pille Nebenwirkungen haben, bezweifeln Endokrinologen, dass das stimmt. Um solche Absenkungen zu erreichen bräuchte es spezielle Medikamente, so genannte Antiandrogene. Das Risiko wären zum Beispiel Depressionen, Blutarmut und Osteoporose.
Tatsächlich hat sich auch der Weltärztebund (WMA) zu dem Fall geäußert. Ihr Präsident, Dr. Leonid Eidelman, hat starke ethische Vorbehalte gegen die Regel. In einer Erklärung auf der WMA-Webseite sagt er: "[Die Regeln] basieren auf schwachen Belegen von einer einzigen Studie. Außerdem stehen sie im Gegensatz zu einer Reihe bedeutender ethischer Erklärungen der WMA. Darum fordern wir, die Regeln umgehend zurückzuziehen."
Der deutsche Vorsitzende der WMA, Dr. Frank-Ulrich Montgomery, betonte in einem Gespräch mit der australischen Rundfunkgesellschaft ABC, dass Mediziner nicht gezwungen werden können, die Hormontherapie durchzuführen. Weiter sagte er: "Wir rufen all unsere Kollegen dringend auf, sich dagegen zu wehren und auch zu weigern".
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Und jetzt?
Eine dritte Wettkampfkategorie?
Es ist auch unklar, ob das die Probleme lösen würde. Denn die IAAF müsste auch dann noch festlegen, wer in welche Kategorie fällt. Dass alle Athleten und Athletinnen mit den Einteilungen einverstanden wären, ist unwahrscheinlich.
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Die Biologie kennt diese Trennlinie nicht – der Übergang zwischen typisch männlich und typisch weiblich ist nicht scharf, sondern fließend. Hmmm also erst mal XX und XY und daraus resultierend Gebärmutter oder Hoden. Da ist die Natur ziemlich eindeutig. Da Hoden = Testosteron = offensichtlicher Physionomische und Hormonelle Vorteile bedeutet,… Weiterlesen »
Ein toller differenzierter Artikel, vielen Dank! 🙂