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Lieferengpässe bei Arzneimitteln
Darum ist der Medikamentenmangel so schwer zu lösen
Spätestens im vergangenen Winter wurde deutlich: Arzneimittel sind teils knapp. Der Medikamentenmangel betrifft uns alle und lässt sich leider nicht so schnell lösen.
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Artikel Abschnitt: Darum geht's:
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Der Weg zum fertigen Medikament führt einmal um die ganze Welt
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In vielen Fällen findet jeder dieser Schritte an einem anderen Ort statt. Selbst die „Hersteller“ wissen oft nicht, welche Reise ihr Produkt hinter sich hat. Die Lieferketten von Arzneimitteln sind also lang und in der Regel wenig transparent.
Bis weit ins 20. Jahrhundert war Deutschland noch die "Apotheke der Welt"
Die Zeiten, in denen Deutschland noch die "Apotheke der Welt" war, sind längst vorbei. Auch große deutsche Pharmaunternehmen wie Bayer oder Merck importieren wichtige Bestandteile ihrer Arzneimittel. Das betrifft vor allem die Wirkstoffe.
Denn anders als vielleicht erwartet stellt man pharmakologische Wirkstoffe wie etwa Ibuprofen nicht in einer einzigen chemischen Reaktion her. Dahinter steckt vielmehr eine aufwendige Synthese mit einigen Zwischenstufen. Und selbst diese Zwischenprodukte entstehen oft nicht an einem Ort.
Warum? Zum einen sind die Kosten für Löhne und Umweltauflagen in Ländern wie China oder Indien geringer. Zum anderen spielen Mengenskalierungseffekte eine große Rolle bei weiteren Kosteneinsparungen. In der Massenproduktion ist es oft günstiger, nur einen Schritt in der Wirkstoffsynthese zu machen und das Vorprodukt an die nächste Pharmafirma weiterzugeben, als die gesamte Synthese zu übernehmen. Vor allem die Schritte zu Beginn der Arzneimittelherstellung, also die Produktion der Wirkstoffe, finden hauptsächlich in Asien (China und Indien) statt.
Je weiter das Medikament in der Fertigung ist, desto näher sind uns auch Zulieferer oder Hersteller. Die Verpackung kommt dann schließlich zu 75 Prozent aus der EU (hauptsächlich Polen, Italien und Schweden) und nur noch zu 4 Prozent aus China.
Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
Lieferengpässe sind nicht nur eine Folge der Preispolitik
Das gilt insbesondere für die sogenannten Generika, also Medikamente, bei denen der Patentschutz ausgelaufen ist. Die machen rund 80 Prozent des täglichen Arzneimittelbedarfs in Deutschland aus. Generika verkaufen sich als sogenannte Nachahmerprodukte zu viel günstigeren Preisen als die Originalprodukte. Oft handeln Krankenkassen für diese Medikamente Rabattverträge aus, die Hersteller dazu zwingen, möglichst billig zu produzieren.
Lieferengpässe bei Medikamenten sind ein globales Problem
Warum das über kurz oder lang zu Problemen führt, liegt eigentlich auf der Hand: Wenn es weltweit vergleichsweise wenige Hersteller gibt, die sehr spezialisiert produzieren, und auch die Produktion selbst knapp auf Kante genäht ist, ist die Stabilität der Lieferketten in Gefahr.
Denn durch Zwischenfälle wie ein Erdbeben oder einen Brand in einer Fabrik kann es schnell zu Störungen in der Lieferkette von Medikamenten kommen, die man dann überall auf der Welt in recht kurzer Zeit bemerkt. Von Arzneimittel-Lieferengpässen, die wir in den letzten Jahren in Deutschland bemerkt haben, waren auch andere Länder betroffen – das ist ein weltweites Problem.
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Was ist ein Engpass?
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Jeder Lieferengpass erzählt eine eigene Geschichte
Angesichts der großen Anzahl an knappen Medikamenten ist schnell klar: Das kann nicht nur an einem einzigen Problem irgendwo auf dem Transportweg liegen. Schauen wir uns also etwas genauer an, warum die Medikamentenversorgung ins Wanken gerät. Es kann passieren, dass
- es auf dem Transportweg Probleme gibt
- Hindernisse im Herstellungsprozess aufkommen
- es generell nur wenige Hersteller für ein Medikament gibt
- sich die Herstellung eines Medikaments für die Pharmafirmen finanziell nicht mehr lohnt
- der Bedarf eines Medikaments unerwartet steigt
Verunreinigter Blutdrucksenker sorgt für Mangel
Wie sich ein Problem bei der Produktion auf die Lieferbarkeit von Arzneimitteln auswirken kann, zeigte sich 2018 beim Blutdrucksenker Valsartan. Der chinesische Hersteller "Zhejiang Huahai Pharmaceutical" hatte damals seinen Syntheseweg für den Wirkstoff geändert, was dazu führte, dass eine Verunreinigung entstand, die als Nebenprodukt im Wirkstoff enthalten war: N-Nitrosodimethylamin.
Ein Stoff, der auch in Zigarettenrauch vorkommt und als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft wird. Ein Fehler mit Folgen. Denn allein in Deutschland nahmen zu diesem Zeitpunkt 2,25 Millionen Menschen Valsartan ein. Rund 40 Prozent der Medikamente waren von der Verunreinigung (potenziell) betroffen und mussten zurückgerufen werden.
Fiebersaft-Produktion lohnt sich nicht
Auch wegen der übertriebenen Ökonomisierung können Medikamente knapp werden. Denn der Kostendruck auf Generika ist enorm. Deutlich wurde das 2022 mit der Knappheit von Fiebersäften für Kinder. Im Frühjahr des Jahres hatte 1A-Pharma erklärt, aus Kostengründen keinen Paracetamol-Saft mehr herzustellen.
Nicht etwa, weil sich das Medikament schlecht verkauft hat oder es zu viele Anbieter gab, sondern weil sich die Herstellung bei einem Endpreis von unter zwei Euro pro Flasche einfach nicht mehr lohnte. Übrig bleibt nunmehr nur noch ein einziger deutscher Hersteller, Ratiopharm, der die Versorgung stemmt. Vor zwölf Jahren war die Anzahl der Hersteller noch zweistellig.
Internet-Hype sorgt für Lieferengpässe
Selbst wenn Hersteller ein Medikamente mengenmäßig wie geplant herstellen, kann es noch Probleme geben. Schlanke Produktionslinien und eine geringe Lagerhaltung haben zur Folge, dass wenig Überschuss produziert wird. Eine unerwartet hohe Nachfrage kann also auch zu Lieferengpässen führen.
So geschehen beim Wirkstoff Semaglutid, der zur Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt wird. Semaglutid ist seit 2018 für den europäischen Markt zugelassen und kam einige Jahre lang auch ausschließlich zur Behandlung von Diabetes zum Einsatz.
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Problem erkannt – Problem gebannt?
In vielen Fällen, zum Beispiel bei Medikamenten gegen Kopfschmerzen oder Fieber, können Ärzt:innen zur Behandlung aber auch eine andere Darreichungsform wählen. Manchmal auch ohne Probleme einen anderen Wirkstoff – wie Paracetamol anstatt Ibuprofen. Fiebersaft kann man problemlos durch Fieberzäpfchen oder -tabletten ersetzen. Das kann dann kurzfristig zu einer Entspannung der Lage führen.
Und hier klingt schon an: kann und kurzfristig. Eine Lösung des Problems ist das aber noch nicht. Regierungen und Unternehmen haben die Lieferengpässe als globales Problem erkannt und Schwachstellen analysiert. Mit Gesetzen wie dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) hat etwa die Bundesregierung bereits versucht, etwas dagegen zu tun. Die Ziele:
- der europäische Produktionsstandort soll gestärkt werden
- die Preisgestaltung für Kinderarzneimittel soll gelockert werden
- die Vorratshaltung soll ausgebaut werden
- ein Frühwarnsystem soll etabliert werden.
Es gibt aber auch Kritik an dem Gesetz. So seien die Maßnahmen gut gemeint, aber schlecht umgesetzt und greifen auch viel zu kurz. Ähnliches lässt sich über die geplante EU-Pharma-Reform sagen: Auch hier werden Maßnahmen angedacht, um Lieferengpässe zu beheben, und auch hier stöhnt die Industrie: "Können wir nicht leisten!", und die Verbraucher:innen mahnen, die Maßnahmen seien zu schlapp.
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Und jetzt?
Es braucht eine Lösungsstrategie, die langfristig Verbesserungen bringt
Um Lieferketten resilienter zu machen, braucht es viele weitere Schritte auf nationaler und europäischer Ebene. Und es braucht Daten! Leider müssen wir ganz von vorne anfangen, denn selbst für Medikamente, die wir täglich brauchen, sind die Lieferketten nicht transparent.
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- Nicht hamstern! Eine zusätzliche Verknappung verschärft das Problem
- Bestandsystem für Apotheken einführen (so können Kund:innen an andere Apotheken verwiesen werden)
- Lagerbestände aufstocken, wenn möglich
- Kostendruck auf Generika überdenken
- Lieferketten analysieren
- Stresstests für Wertschöpfungsketten durchführen
- Gezielte Anreize für den Produktionsstandort Deutschland und Europa schaffen
- Rabattverträge nicht nur mit den günstigsten Anbietern schließen
- Förderung der gemeinsamen Beschaffung von Medikamenten auf EU-Ebene
- Vereinfachung des Arzneimittelverkehrs zwischen den EU-Mitgliedstaaten
Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das Geld kostet. "Allein die Rückverlagerung der Produktion von Cephalosporinen, der […] am zweithäufigsten verordneten Gruppe der Antibiotika, um damit den deutschen Markt bedienen zu können, würde geschätzte Mehrkosten von rund 55 Millionen Euro pro Jahr für das Gesundheitssystem bedeuten", heißt es in einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Nachhaltigkeit und Unabhängigkeit haben ihren Preis.
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Quellenangaben zum Artikel:
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Dies ist eine Begründung der Industrie, die über Jahre die Fertigung von Medikamenten in Billiglohnländer verlagert hat. In meinem Fall Clonidin: Seit mindestens zwei Jahren ist der Engpass bekannt und passiert ist nichts. Ich habe nun noch für fünf Tage das Medikament. Danach habe ich nichts mehr zu verlieren. D.h.… Weiterlesen »
Super zusammengefasst Frau Dr. Sage, herzlichen Dank!
Top Prio : Die Politik ist global nun gefordert kostengünstig, nachhaltig und logistisch nah die Produktion zu fördern. Ob das gelingt, ist allerdings eine andere Frage..
Diejenigen, die das pharmazeutische Erzeugnis „in den Verkehr bringen“ (und das ist eben nicht der Hersteller eines einzelnen Roh- oder Hilfsstoffes oder der Verpackung) kennen die Lieferkette sehr genau. Das liegt daran, dass die Zulassungsbehörden (BPharm, aber insbesondere die US-amerikanische FDA) jeden Herstellungsschritt von jedem Inhaltsstoff (incl. der Vorstufen!) genauestens… Weiterlesen »
Gewinnoptimierung geht vor Versorgungssicherheit- ein ernsthaftes Interesse, dies zu ändern wird wohl weder durch die Pharnaindustrie als Wirtschaftsunternehmen noch durch einschlägig als abhängig und korrupt bekannte Institutionen als Ersteller von Regeln zu erwarten sein.
Warum, das Wissen ist da und wurde in westlichen Gebieten entwickelt, es wurde nur verkauft und verschleppt, und in China hergestellt um die Gewinnmarge möglichst groß zu halten.Das Problem sind nicht die Medikamente, sondern nett gesagt die Geier die dort drumherum fliegen.