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Emotionen
Darum schämen wir uns
Schon mal beim Yogakurs laut gepupst oder einen Witz auf Kosten des Chefs erzählt, der genau hinter dir stand? Warum Scham so unangenehm ist – und wieso wir uns sogar fremdschämen.
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Artikel Abschnitt: Was ist Scham?
Was ist Scham?
Um sich zu schämen, müssen nicht zwingend andere Menschen anwesend sein. Alleine die Vorstellung von einer unangenehmen Situation kann dazu führen, dass wir Scham empfinden.
Artikel Abschnitt: Was löst Scham aus?
Was löst Scham aus?
Auslöser ist individuell
Der genaue Auslöser ist dabei ganz individuell: Situationen, in denen sich die eine Person extrem schämt, können einer anderen völlig egal sein. Denn ob wir uns schämen oder nicht, hängt stark mit den Wertevorstellungen einer Kultur, mit der Bildungsschicht oder der Gruppe zusammen, der wir uns zugehörig fühlen. Auch die Intensität des Gefühls kann sich stark unterscheiden.
Für den Psychoanalytiker Léon Wurmser zählt zu den wichtigsten Schamauslösern, wenn Menschen denken, sie seien schwach. Wenn wir in einer bestimmten Situation versagen, die Kontrolle über die eigenen Impulse verlieren oder vermeintlich unangemessene Gefühle zeigen – zum Beispiel, wenn wir in der Öffentlichkeit weinen.
Forschende unterscheiden unterschiedliche Typen von Scham
- Ein Scham-Typ ist die "soziale und körperliche Abweichung oder abweichende Persönlichkeitsmerkmale“. Das heißt, wir können Scham empfinden, wenn wir in der Öffentlichkeit weinen oder in unangemessenen Situationen laut lachen. Auch wenn wir uns aufgrund unserer sozialen Zugehörigkeit in bestimmten Situationen fehl am Platz fühlen oder wenn wir uns beim Sex für unseren Körper schämen.
- Ein weiterer Scham-Typ ist "Überschreitungen oder grenzverletzendes Verhalten“. Wir können also Scham empfinden, wenn wir für unser Verhalten öffentlich kritisiert werden, wenn wir lügen oder gesellschaftliche Normen brechen.
- Auch "Versagen oder Misserfolg“ können zu Schamgefühlen führen. Hierzu zählen unter anderem Niederlagen, wenn wir Fehler machen oder wenn wir Behauptungen anstellen, die sich als Irrtum erweisen. Forschende zählen zu diesem Scham-Typ übrigens auch, wenn Scham ausgelöst wird, weil wir Körperfunktionen nicht kontrollieren können – zum Beispiel, wenn wir laut pupsen.
- Aber auch eigentlich Positives wie Lob kann zu Scham führen – etwa wegen der erhöhten Aufmerksamkeit oder aus Angst, nicht angemessen auf das Lob zu reagieren.
Artikel Abschnitt: Ist Scham angeboren oder anerzogen?
Ist Scham angeboren oder anerzogen?
Andere Forschende glauben, dass man sich erst dann schämen kann, wenn man soziale Regeln versteht und sich selbst als Person erleben kann – das geht ab dem 18. Lebensmonat.
Scham kann von Eltern hervorgerufen werden
Der Psychologe Michael Lewis hat festgestellt, dass die Scham von den Eltern hervorgerufen wird – wenn sie etwa mit Ärger, Liebesentzug oder Ekel auf das Verhalten des Kindes reagieren. Kinder müssen die Reaktionen der Eltern nicht im Einzelnen verstehen, aber sie müssen erkennen können, dass sie eine negative Bewertung auf ihr eigenes Verhalten sind.
Artikel Abschnitt: Was passiert mit uns, wenn wir uns schämen?
Was passiert mit uns, wenn wir uns schämen?
Die Gegenspieler: Sympathikus und Parasympathikus
Das vegetative Nervensystem besteht aus dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem. Das sympathische Nervensystem wirkt aktivierend, während das parasympathische Nervensystem deaktivierend wirkt. Normalerweise sind die beiden Nervensysteme gegensätzlich tätig.
Denn der Sympathikus verstärkt bei Stress die Funktionen, die den Körper in erhöhte Handlungsbereitschaft bringen – Puls und Blutdruck sind erhöht, der Glukosespiegel im Blut steigt. Wenn die Stresssituation vorbei ist, wird der Parasympathikus stärker. Der Körper stellt sich auf Erholung ein, indem Puls und Blutdruck langsamer werden und der Glukosespiegel im Blut sinkt.
Der Psychologe Allan Schore fand heraus: Wenn wir uns schämen, sind wir in einem stark fehlregulierten Zustand – Sympathikus und Parasympathikus sind gleichzeitig aktiv. Wir sind also gleichzeitig extrem aktiv und extrem passiv. Dies erklärt laut Schore Reaktionen wie das Erröten, Schwitzen, das Zusammensacken des Körpers und die Verwirrung.
Artikel Abschnitt: Warum werden wir rot, wenn wir uns schämen?
Warum werden wir rot, wenn wir uns schämen?
Scham kann Immunantwort auslösen
Die Psychologin Sally Dickerson von der University of Los Angeles untersuchte anhand von Speichelproben die Reaktionen des Körpers auf Scham. Sie ließ Proband:innen in einem Aufsatz peinliche Erlebnisse aus ihrem Leben beschreiben und nahm währenddessen eine Probe des Speichels. Sie fand heraus, dass die schamvolle Erinnerung eine deutliche Immunantwort hervorrief. Das Immunsystem aktivierte den Botenstoff Tumornekrosefaktor alpha, der zu klassischen Entzündungssymptomen wie Hitze, Schwellung, Rötung und Schmerz führen kann. Diese Symptome können auch auftreten, wenn wir uns schämen.
Rotwerden ist zwar unangenehm, könnte aber helfen
Warum aber genau das Gesicht vom Rotwerden betroffen ist, ist nicht vollständig geklärt. Klar ist, dass die sichtbare Reaktion des Rotwerdens in peinlichen Situationen die Aufmerksamkeit auf unser Gesicht verstärkt. Dadurch werden insbesondere das Rotwerden und das dazugehörige Schwitzen neben dem eigentlichen Schamauslöser als besonders unangenehm empfunden.
Eine Studie aus den Niederlanden fand allerdings heraus, dass das Rotwerden im Zusammenhang mit Grenzüberschreitungen ein hilfreiches, gesichtswahrendes körperliches Signal ist. Denn Proband:innen, die Menschen betrachteten, die in einer peinlichen Situation rot wurden, bewerteten diese wohlwollender als Menschen, die in derselben Situation nicht rot wurden.
Artikel Abschnitt: Kann Scham nützlich sein?
Kann Scham nützlich sein?
Scham wirkt also regulierend, ohne dass mit direkter Sanktion durch eine Gruppe gerechnet werden muss. Wenn wir uns schämen, signalisiert das unserem Umfeld, dass wir unseren Verstoß gegen allgemeingültige Regeln sozusagen bereuen.
Artikel Abschnitt: Ist Scham überall auf der Welt gleich?
Ist Scham überall auf der Welt gleich?
Frauen können Scham intensiver erleben
Der Psychologe Wolfgang Kalbe kam in einer Studie zu dem Schluss, dass Frauen Scham oft intensiver erleben als Männer, wenn ihre persönlichen Grenzen von anderen Menschen verletzt werden und sie sich hilflos und ausgeliefert fühlen.
Auch Untersuchungen des amerikanischen Anthropologen Daniel Fessler machen die Unterschiede im Erleben von Scham deutlich: Er legte einer Probandengruppe aus einem Dorf in Indonesien und einer Gruppe aus dem urbanen Kalifornien eine Liste mit 52 Gefühlen vor. Sie sollten die Gefühle danach ordnen, wie häufig sie im Alltag genannt werden. In der indonesischen Gruppe wurde das Wort Scham an zweiter Stelle genannt. In der kalifornischen Gruppe an 49.
Schamgefühle unterscheiden sich stark
Fessler kategorisierte auch die Ereignisse, bei denen Scham empfunden wird. Er fand heraus, dass es auch hier Unterschiede gibt: Während 20 Prozent der kalifornischen Proband:innen in Situationen Scham empfunden hatten, in denen sie anderen Personen schadeten, wurde diese Situation von keinem aus der indonesischen Gruppe berichtet.
Rund 18 Prozent der indonesischen Proband:innen dagegen hatten Scham in Situationen empfunden, in denen sie mit Personen zu tun hatten, denen sie hierarchisch unterstellt waren. Diese Situationen spielten für die kalifornischen Proband:innen keine Rolle.
Eine starke Überschneidung gab es nur bei klassischen Schamereignissen, in denen Proband:innen wichtige soziale Normen brachen. Bei diesen empfand etwa die Hälfte der Proband:innen aus beiden Gruppen Scham.
Artikel Abschnitt: Warum schämen wir uns fremd?
Warum schämen wir uns fremd?
Forschende der Universität Marburg fanden heraus, was im Gehirn passiert, wenn wir uns fremdschämen: Sie führten dazu zwei Studien durch. In einer konfrontierten sie Proband:innen mithilfe von Fragebögen mit kurz beschriebenen, peinlichen Szenen und registrierten die Reaktionen. Das Ergebnis: Das Gefühl der Scham stellt sich relativ unabhängig davon ein, ob sich die beobachtete Person selbst blamiert fühlte oder nicht.
Das Gehirn reagiert auf Fremdscham genauso wie auf Mitgefühl
Mit funktioneller Magnetresonanztomografie konnten die Forschenden dann in einer zweiten Studie beobachten, was genau im Gehirn passiert, wenn wir uns fremdschämen:
Bei den Proband:innen wurden die anteriore Insula und der anteriore cinguläre Cortex im Gehirn aktiviert, als sie Menschen beobachteten, die sich in einer peinlichen Situation befanden. Die anteriore Insula ist an empathischen Fähigkeiten wie Liebe, Hass oder Scham beteiligt – der anteriore cinguläre Cortex reguliert Blutdruck und Herzfrequenz und ist an der Entscheidungsfindung und Impulskontrolle beteiligt.
Beide Hirnregionen sind ebenfalls aktiv, wenn wir Mitgefühl bei körperlichen Schmerzen anderer empfinden. Es zeigte sich übrigens sogar selbst dann eine starke neuronale Aktivität bei den Proband:innen, wenn sich die beobachtete Person nicht darüber bewusst war, dass sie sich in einer peinlichen Situation befindet.
Das Fazit der Forschenden: Es scheint in sozialen Kontakten extrem wichtig zu sein, das Gesicht nicht zu verlieren. So wichtig, dass es schon ausreicht, sich nur in die Situation anderer zu versetzen, die von außen betrachtet als peinlich erscheint – und schon schämen wir uns fremd.
Artikel Abschnitt: Was hilft gegen Scham?
Was hilft gegen Scham?
Sich der Scham stellen
Zwei führende amerikanische Forschende zum Schamgefühl sind Brené Brown von der University of Houston und der Soziologe Thomas Scheff von der UC Santa Barbara. Beide gehen davon aus, dass es vor allem bei krankhaftem Schamgefühl hilfreich sein kann, sich der Scham zu stellen, anstatt sie zu verstecken. Das kann sowohl im Austausch mit engen Bezugspersonen geschehen, also im Gespräch mit Freunden und Familie, oder aber auch in Therapiesitzungen mit der Unterstützung von Psychotherapeuten.
Dabei wird versucht, zu ergründen, warum Betroffene in bestimmten Situationen extreme Scham empfinden. Gleichzeitig werden sie immer wieder mit dem Schamgefühl konfrontiert. Dadurch sollen sie lernen, dass das Empfinden von Scham nicht schlimm ist.
Einen Praxistipp hat Scheff aber: Er sagt, es kann helfen, in Situationen, in den wir Scham empfinden, zu lachen. Da Lachen eine Emotion ist, die ansteckend wirkt und sich auf Mitmenschen überträgt, kann es nicht nur die peinliche Situation lösen, sondern auch entspannend auf einen selbst wirken.
Autorin: Johanna Stapf
Ursprünglich veröffentlicht am 03. Juni 2020
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