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Psychische Krankheiten
Das bedeutet es, an Schizophrenie zu leiden
Gefährlich, inkompetent, unheilbar: Menschen mit Schizophrenie sind stigmatisiert. Aber was passiert wirklich, wenn jemand an Schizophrenie erkrankt?
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Inhalt
- Darum geht’s: Viele glauben, Menschen mit Schizophrenie seien gefährlich
- Darum müssen wir drüber sprechen: Das weiß die Forschung über das Gewaltrisiko
- Aber: Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene erst spät Hilfe suchen
- Und jetzt? Wer Menschen mit Schizophrenie kennenlernt, hat weniger Vorurteile
- Darum geht’s: Viele glauben, Menschen mit Schizophrenie seien gefährlich
- Darum müssen wir drüber sprechen: Das weiß die Forschung über das Gewaltrisiko
- Aber: Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene erst spät Hilfe suchen
- Und jetzt? Wer Menschen mit Schizophrenie kennenlernt, hat weniger Vorurteile
Artikel Abschnitt: Darum geht’s:
Darum geht’s:
Viele glauben, Menschen mit Schizophrenie seien gefährlich
So bejahten in einer Studie, die in Deutschland durchgeführt wurde, ein Fünftel der Befragten die Aussage: Würden alle Patient:innen mit Schizophrenie in geschlossene Stationen eingewiesen, könnte die Zahl der Gewaltverbrechen deutlich reduziert werden. Ein Fünftel glaubte: Die meisten Sexualverbrechen werden von Menschen mit Schizophrenie begangen. Und ein Drittel war der Meinung, dass Menschen mit Schizophrenie völlig unberechenbar sind. Doch was bedeutet es eigentlich, an Schizophrenie zu erkranken?
Das passiert, wenn du an Schizophrenie erkrankst
Zuerst einmal: Anders als viele Menschen glauben, hängt die Störung nicht mit einer gespaltenen Persönlichkeit zusammen. Vielmehr ist es eine Störung des Denkens und der Wahrnehmung. Die Botenstoffe im Gehirn sind aus dem Gleichgewicht geraten, Informationen werden nicht mehr richtig weitergegeben. Bisher wissen Forschende, dass unter anderem das Neurotransmittersystem, das mit Dopamin kommuniziert, betroffen ist, aber auch Glutamat und Serotonin eine Rolle spielen. Wie alles genau zusammenhängt, wissen sie noch nicht. Die Ursachen sind komplex und die Formen der Schizophrenie vielfältig.
Manche Betroffene fühlen sich verfolgt. Manche hören Stimmen. Manche glauben, dass ihnen ihre Gedanken von außen eingepflanzt wurden. Sinneseindrücke können sich verknüpfen. Apfelsaft kann plötzlich bitter schmecken und den Verdacht erwecken, vergiftet zu sein. Positivsymptome nennt man diese Veränderung der Wahrnehmung, weil sie dem Erleben etwas hinzufügen.
Östrogen schützt Frauen – zunächst
Rund jeder Hundertste erlebt in seinem Leben mindestens einmal eine solche Episode mit der Diagnose Schizophrenie. Männer meist im Alter von 15 bis 24 Jahren, Frauen im Durchschnitt fünf Jahre später – und zunächst weniger häufig. Denn das Östrogen schützt sie. Fällt dieser Schutz in den Wechseljahren, kann es zu einer ersten psychotischen Episode kommen. Diese kann Wochen, aber auch Monate dauern. Sie kann wiederkehren – aber auch dauerhaft anhalten.
Bei etwa einem Drittel der Fälle bleiben nach der einzelnen Episode keine Symptome zurück. Betroffene können teilweise wieder voll arbeiten und sind sozial integriert. Um die 40 Prozent leiden weiterhin an der Krankheit – meist an Negativsymptomen, die oft schon vor der ersten Episode auftraten.
Heißt: Betroffene fühlen sich antriebslos, depressiv, gleichgültig. Ihnen fällt es schwer, sich zu konzentrieren. Sie empfinden kaum noch Freude. Bei etwa 10 bis 30 Prozent der Betroffenen werden die Symptome von Episode zu Episode schlimmer. Das kann zu schweren sozialen Behinderungen führen.
Diese Faktoren können die Krankheit triggern
Ausgelöst wird die Krankheit durch das Wechselspiel von Umwelt und Genen. Dazu gibt es mehrere Theorien, wie diese genau zusammenwirken, unter anderem das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell. Demnach bricht die Krankheit bei einer Vorbelastung erst dann aus, wenn biologische oder psychosoziale Stressfaktoren hinzukommen. Je näher dabei eine Person mit einem Betroffenen verwandt ist, desto höher ist das Erkrankungsrisiko. Bei einem eineiigen Zwilling liegt es zwischen 45 und 50 Prozent. Doch auch durch Infektionen während der Schwangerschaft kann bei Kindern das Risiko steigen, an einer Schizophrenie zu erkranken.
Kommt zu dieser angeborenen oder erworbenen Vorbelastung Stress hinzu, kann das eine erste Psychose auslösen. So können kritische Bemerkungen von nahestehenden Personen das Erkrankungs- und Rückfallrisiko erheblich erhöhen. Aber auch traumatische Erlebnisse oder der Missbrauch von Drogen können entscheidend triggern. Vor allem das Kiffen im Jugendalter kann die Entwicklung des Gehirns stören.
Mehr zum Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychosen gibt’s hier.
Das kann man dagegen tun
Wer mit Stress besser umgehen und auf ein soziales Netzwerk zählen kann, den werfen seelische Belastungen dagegen nicht so leicht aus der Bahn. Forschende gehen deshalb davon aus, dass Menschen mit einer guten Stressbewältigungsstrategie (Coping) nicht so leicht erkranken. Diese These ist aber noch nicht vollends belegt.
Trotzdem versuchen Psycholog:innen die Betroffenen darin zu stärken, mit Stress besser umgehen können. Und sie versuchen, mit Patient:innen die ersten Anzeichen einer Psychose zu identifizieren. Denn wer merkt, wann eine neue Episode bevorsteht, kann rechtzeitig handeln, um sie zu verhindern.
Zum Beispiel, indem er die Dosis der Medikamente, der Antipsychotika, erhöht. Diese unterdrücken vor allem die Positivsymptome. Aber: Man weiß noch zu wenig über die Krankheit, um die Ursachen behandeln zu können.
Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
Das weiß die Forschung über das Gewaltrisiko
In einer Metaanalyse untersuchten Forschende zwanzig Studien. Von den dabei erfassten Fällen begingen 9,9 Prozent der Menschen mit Schizophrenie eine Gewalttat – in der Allgemeinbevölkerung nur 1,6 Prozent. Sie fanden aber auch heraus: Tätlich wurden vor allem die Personen, die nicht nur an Schizophrenie litten, sondern auch Drogen oder Alkohol konsumierten.
Nicht immer ist also klar, ob die Taten in direktem Zusammenhang mit der Diagnose Schizophrenie stehen. Beispielsweise kann auch ein Missbrauch in der Kindheit, der gleichzeitig das Risiko erhöht, an einer Schizophrenie zu erkranken, Gewalt triggern. Ebenso wie eine dissoziale Verhaltensstörung, die schon vor der Diagnose bestand. Oft besteht also kein oder nur ein unklarer Zusammenhang.
Eine Behandlung reduziert das Gewaltrisiko
Ein erhöhtes Gewaltrisiko im direkten Zusammenhang mit der Diagnose stellte eine Gruppe Forschende vor allem bei ausgeprägten Positivsymptomen wie dem paranoiden Wahn fest. Doch auch hier muss man unterscheiden: Fühlen sich Betroffene bedroht? Sind sie ängstlich? Wütend? Gibt es für sie Rückzugsmöglichkeiten? Werden sie betreut oder behandelt? Treten gleichzeitig Negativsymptome auf?
Die Forschenden fanden heraus: Wer verstärkt an negativen Symptomen wie Antriebsschwäche leidet, der ist sogar seltener gewalttätig. Ebenso jemand, der alleine lebt. Die Forschenden vermuteten, dass die familiäre Mitsorge aggressives Verhalten sowohl verhindern als auch fördern kann – je nach Reaktion der Nahestehenden. So waren Betroffene, die sich von ihrer Familie die meiste Zeit gehört fühlten, nur halb so oft gewalttätig wie Betroffene, die sich nicht gehört fühlten.
Der überwiegende Teil begeht keine Straftaten
Tritt eine Tat als längerfristige Konsequenz der Krankheit ein, spricht man von einem indirekten Zusammenhang. Menschen mit Schizophrenie finden oft keine Arbeit mehr, das führt zu finanziellen Unsicherheiten und dem sozialen Abstieg. Betroffene werden sozial isoliert und verwahrlosen. Auch dadurch kann das Gewaltrisiko steigen.
Allerdings begeht der überwiegende Teil der Menschen mit Schizophrenie keine Straftaten. Und das Risiko, von einem Menschen mit Schizophrenie angegriffen zu werden, ist für die Allgemeinbevölkerung gering. Eine Studie in Großbritannien untersuchte die Rückfallquote bei ehemaligen Gefängnisinsassen mit und ohne Schizophrenie – und stellte fest: Waren die Betroffenen während oder nach der Haft in psychiatrischer Behandlung, unterschied sich ihr Gewaltrisiko nicht mehr von dem der Kontrollgruppe.
Artikel Abschnitt: Aber:
Aber:
Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene erst spät Hilfe suchen
In Deutschland steigt die Abneigung gegenüber Betroffenen damit, wie nah einem derjenige wäre. So hatten in einer Studie 65,9 Prozent der Befragten etwas dagegen, dass jemand mit Schizophrenie in die Familie einheiratet. 63,2 Prozent würden an Betroffene kein Zimmer vermieten und 33,3 Prozent wollten niemanden mit Schizophrenie zum Nachbarn haben.
Je älter und weniger gebildet die Personen dabei sind, desto stärker ist ihre Tendenz, Kontakt mit Betroffenen zu vermeiden. Sie nehmen diese auch öfter als unberechenbar, inkompetent und gefährlich wahr und glauben, Menschen mit Schizophrenie hätten eine schlechte Prognose.
Stigmatisierung verschlimmert die Krankheit
Das Problem: Mit der Zeit verinnerlichen Betroffene die Fremdwahrnehmung. Sie beginnen sich selbst für inkompetent zu halten, verlieren ihr Selbstvertrauen und geben auf, nach einer Wohnung oder Arbeit zu suchen. Und je größer das verinnerlichte Stigma, desto höher die Selbstmordrate. Personen mit Schizophrenie begehen fast 13-mal häufiger Suizid als die Allgemeinbevölkerung. Auch hier spielen Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie Positivsymptome eine Rolle.
Was hilft? Eine wirksame Behandlung. Mehrere Studien zeigten, dass Personen, die sich einer Therapie unterzogen, ein geringeres Risiko hatten, Selbstmord zu begehen, wohingegen ein Therapieabbruch mit einem erhöhten Selbstmordrisiko verbunden war. Das Problem: Je größer das verinnerlichte Stigma, desto eher brechen Betroffene ihre Behandlung ab. Sie haben Angst vor Diskriminierung.
Die Berichterstattung trägt zur Stigmatisierung bei
Die meisten Medienberichte zu Schizophrenie konzentrieren sich auf Gewalt. Positive Berichte über die Möglichkeiten von Heilung und Rehabilitation sind selten. Das prägt auch die öffentliche Einstellung der Menschen gegenüber der Krankheit.
Im April 1990 griff eine Frau den Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine mit einem Messer an. Sie litt an paranoider Schizophrenie, war gefangen in ihrer Wahnwelt. Rund ein halbes Jahr später schoss ein Mann auf den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Auch bei ihm diagnostizierten Ärzt:innen paranoide Schizophrenie, stellten aber auch eine Drogenabhängigkeit fest.
Wochenlang dominierte die Berichterstattung deutsche Zeitungen. Zwei Forscher untersuchten in dieser Zeit, wie sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Menschen mit Schizophrenie änderte – und stellten einen deutlichen Anstieg der gewünschten sozialen Distanz in der Allgemeinbevölkerung fest, die auch zwei Jahre später immer noch nicht vollständig auf ihr Ausgangsniveau zurückgesunken war.
Umfrage: Kontakt oft über Medien
Rund zehn Jahre später befragten Forschende in Deutschland Großstädter:innen, wann und in welcher Form sie etwas über Menschen mit Schizophrenie erfahren haben. 15 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen sechs Monaten etwas über die Erkrankung durch die Medien mitbekommen zu haben. Davon erinnerten sich 22,2 Prozent an Beschreibungen schizophrener Menschen als gewalttätig, gefährlich oder als jemanden, der ein Verbrechen begangen hatte.
Die Forschenden befragten die Teilnehmer:innen auch, ob sie glaubten, dass etwas getan werden müsse, damit Menschen mit seelischen Erkrankungen mehr in der Gesellschaft akzeptiert werden. 82 Prozent bejahten die Frage. Davon hielten 88,5 Prozent mehr positive Darstellungen und Berichte für wichtig. 80,3 Prozent fanden, es sollte mehr Möglichkeiten zur Begegnung mit psychisch Kranken geben.
Artikel Abschnitt: Und jetzt?
Und jetzt?
Wer Menschen mit Schizophrenie kennenlernt, hat weniger Vorurteile
Sie konnten sich danach eher vorstellen, mit einem Betroffenen befreundet zu sein, und nahmen Menschen mit Schizophrenie weniger oft als gefährlich war. Die Forschenden kamen daher zu dem Ergebnis, dass Antistigmaprojekte auf Schulebene ein vielversprechender Ansatz sein können, um die öffentliche Einstellung gegenüber Personen mit Schizophrenie zu verbessern.
Auch Vereine führen immer wieder Antistigmakampagnen durch. Denn eine Verringerung der Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene früher und konsequenter Hilfe suchen und ihre Therapie auch in Anspruch nehmen. Drogen- und Alkoholabhängigkeit sowie Positivsymptome könnten behandelt werden – und das könnte wiederum das Suizid- wie auch das Gewaltrisiko senken.
Autorin: Sarah Bioly
ursprünglich veröffentlicht: 11. August 2021
Quellenangaben zum Artikel:
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…vielen Dank für den Bericht. Seit nunmehr fast 20 Jahren halten die hiesigen Behörden mich für angbl. „paranoid schizophren“. Diese Erkrankung wurde bei mir nie allerdings GsD festgestellt. Das geht mit einigen Querelen, wie zwangsweiser Verrentung auf Zuruf, ständiges Nachstellen durch Beamte inkl. mindestens drei dokumentierten gesetzlichen Betreuungen (bzw. Anregungen,… Weiterlesen »
Ich bin selber betroffen. Punkt 1 fast alles nur eine Hypothese. Wo her kommt es was ist es wie erleben die Patienten ihre Wahnwelt. Man steckt sie Leute in eine Schublade. Und Anlysiert ohne Instrumente. 10 gutachter sagen der schizo ist ein guter Menschen und bringt dann einen um im… Weiterlesen »
Auch organische Psychosen sollten abgeklärt werden. Die Übergänge von leicht auffällig bis „schizophren“ sind fließend. Es sollten alle möglichen Infektionen ausgeschlossen werden. Leider wird fast nie diagnostiziert, sondern gleich therapiert. Neben Streptokokken, Borrelien, Toxoplaxmen und Einzeller können auch Pilze oder Pilztoxine als Auslöser in Betracht kommen. Stoffwechselstörungen, insbesondere der Diabetes… Weiterlesen »
Toller und wichtiger Artikel, vielen Dank dafür!
Kleiner Denkanstoß zum Titel: Auch wenn der vielleicht korrekte Ausdruck ist an einer Krankheit zu leiden, impliziert er dennoch sehr viel. Viele Menschen leben mit einer diagnostizierten Schizophrenie, aber leiden nicht unbedingt!
Hey! Vielen Dank für dein Feedback, wir sprechen darüber gern nochmal im Team. Leider ist „leiden“ das Verb im Deutschen, was man meist verwendet, um zu sagen, dass jemand von einer Krankheit betroffen ist. Sicherlich könnte man das in diesem Zusammenhang aber noch sensibler ausdrücken.
Da liegt doch schon die Lösung: „Das bedeutet es von Schizophrenie betroffen zu sein“
Bin Mutter von einem Betroffenen und meiner Meinung nach das Gegenteil ist der Fall: das Leiden der Patienten ist sehr groß und deswegen fand ich das Wort vollkommen zutreffend!
Danke für den tollen Artikel! Ich bin selbst erkrankt als ich 17 Jahre war und habe die Erkrankung über verschiedene Faktoren von meinem Vater „geerbt“. Inzwischen kann ich trotzdem ein „normales“ Leben führen mit Arbeit, Freunden und Alltag. Mir gefällt der Artikel besonders, weil es nicht die „Schizophrenie“ gibt, sondern… Weiterlesen »
Hi Elisa! Toll, es freut uns natürlich sehr, wenn unser Artikel auch Betroffenen aus der Seele spricht. Uns war auch wichtig, genau den Aspekt zu betonen, dass es eben nicht „den“ Schizophrenen gibt. Du kannst den Artikel ja gern auch Bekannten weiter empfehlen, die sich etwas näher mit dem Thema… Weiterlesen »