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Gesellschaft
Retten soziale Kipppunkte unser Klima?
Klimaneutralität so schnell wie möglich, das ist der einzige Weg, um die Folgen der globalen Erwärmung einzudämmen. Bringen uns soziale Kipppunkte auf den richtigen Weg?
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Artikel Abschnitt: Darum geht’s:
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Klimaneutralität scheint weit entfernt
Das ist nicht viel. Und noch viel weniger, wenn man bedenkt, dass die globale Oberflächentemperatur im Jahr 2022 bereits etwa ein Grad wärmer war als 1880–1900, der Zeitspanne, die als Referenz für vorindustrielle Bedingungen gilt.
Chancen, unter 1,5-Grad zu bleiben, sind gering
So ist es nicht verwunderlich, dass das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – der wissenschaftliche Sachverständigenrat in Klimafragen – die Chancen für sehr gering ansieht, unter den besagten 1,5 Grad zu bleiben.
Bei günstigen Szenarien, also wenn die Welt nun schnell klimaneutral wird, gehen sie eher von einem "Overshoot“ aus, das heißt, die Temperaturen überschreiten die imaginäre Grenze vorübergehend. Mit etwas Glück sinken sie gegen Ende des 21. Jahrhunderts wieder darunter, wenn die langfristigen Maßnahmen greifen.
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Auch Deutschland kein Vorreiter beim Klimaschutz
Deutschland, das eigentlich Vorreiter in der Klimaneutralität sein sollte und laut Parteibehauptungen auch vermeintlich sein will, verzeichnet zum Teil eher Rückschritte. "Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben“ – so steht es etwa im Koalitionsvertrag 2021–2025, der mit "Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ betitelt ist.
Und nicht nur bei uns sieht es für das Klima schlecht aus: Auch US-Präsident Joe Biden hatte sich Klimaschutz auf die Fahne geschrieben. Nun genehmigte seine Regierung unter lauten Protesten das umstrittene Ölförderprojekt „Willow“ an der Küste von Alaska, was etwa der Sender CNN, traditionell als eher den Demokraten zugeneigt geltend, als Bruch eines seiner Wahlkampfversprechen bezeichnet.
Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
Wenn sich etwas bewegt, dann vielleicht gleich richtig
Hoffnung auf soziale Kipppunkte
Manche Forschende sehen die Hoffnung in "sozialen Kipppunkten“. Bekannt ist das Wort eher bei den physischen Auswirkungen der globalen Erwärmung. Dort bezeichnet es etwa (irreversible) Veränderungen, die einen noch schnelleren Temperaturanstieg nach sich ziehen könnten. Beispiele sind das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes oder das Absterben des Amazonas-Regenwaldes.
Bei sozialen Kipppunkten geht es auch um eine schnelle Veränderung: Eine Minderheit von Menschen stößt etwas an, das sich exponentiell ausbreitet, also praktisch schlagartig von vielen übernommen wird. Solche Umbrüche werden "durch selbstverstärkende positive Feedback-Mechanismen getrieben, die unausweichlich und oft irreversibel zu einem qualitativ anderen Zustand des sozialen Systems führen.“ So erklärt es ein internationales Forschungsteam um Ilona M. Otto, Professorin für Gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz.
Die "kritische Masse“ kann es schaffen
Tatsächlich beschreiben psychologische und soziologische Studien schon länger, dass wenige Menschen schnell umfassende Veränderungen herbeiführen können. Wie groß diese "kritische Masse“ sein muss, hängt wohl von den genauen Umständen ab. Teils sehen Analysen bereits soziale Umbrüche, wenn zehn Prozent gegen den Strom schwimmen. Andere Untersuchungen gehen eher von 17 bis 40 Prozent aus. Möglicherweise kommt es aber auch darauf an, welcher Anteil der Population den Stein ins Rollen bringt.
Vor allem gut vernetzte und einflussreiche Menschen und generell Personen in sozialen Führungsrollen könnten viel bewirken. In jedem Fall ist es offenbar nicht notwendig, zuerst eine Mehrheit zu überzeugen, um große Umstürze zu schaffen. "Soziale Dynamiken entfalten mitunter regelrechte Naturgewalten und reißen mit“, sagt Thomas Brudermann, Nachhaltigkeitsforscher und Umweltpsychologe an der Universität Graz.
Geeignete Rahmenbedingungen notwendig
Allerdings funktioniere das nicht bedingungslos: "Damit sie in Fahrt kommen, müssen sie auch auf einen fruchtbaren Boden fallen, also geeignete Rahmenbedingungen vorfinden.“ Ilona Otto nennt als Beispiel dafür in ihrer Studie Martin Luther: Seine Thesen konnten sich deshalb verbreiten und die Kirche so tiefgreifend verändern, weil kurz zuvor der Buchdruck revolutioniert wurde und die Bevölkerung diese neue Technik mit Begeisterung aufnahm.
In Bezug auf das Klima nennen Otto und ihre Mitautor:innen die finanziellen Anreize für die Produktion erneuerbarer Energie, die dafür gesorgt haben, dass die Technologien zunehmend günstiger werden und der Markt immer weiter wächst. Thomas Brudermann weist zudem auf das gestiegene Problembewusstsein in der Bevölkerung hin: "Durch die ersten sichtbaren Klimafolgen und eine gewissen Dauerpräsenz des Themas in den Medien, beispielsweise über die Klimaproteste, schaffen wir die Rahmenbedingungen für verschiedene soziale Kipppunkte.“
Gleichzeitig gebe es aber auch Umstände, die der Dynamik entgegenwirken: etwa das Festhalten an gewohnten Lebensstilen, wahrgenommene und reale Ungleichheiten, Politikskepsis und Polarisierung.
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Sechs soziale Kippmechanismen
1) Energieproduktion und -speicherung: Subventionen für fossile Energieträger entfernen und Anreize für dezentralisierte Energieproduktionen bieten
Dabei geht es vor allem darum, bereits existierende Technologien sinnvoll einzusetzen. Die Fachleute glauben, dass der Kipppunkt erreicht ist, wenn klimafreundliche Energiequellen sich finanziell lohnen – und das könnte bald schon der Fall sein. Problematisch sind bisher die recht hohen anfänglichen Kosten, um die Infrastruktur entsprechend anzupassen. Hier kommt es auch darauf an, was die Bevölkerung fordert und wie ihre Werte aussehen.
2) Menschliche Siedlungen: CO2-neutrale Städte bauen
Im Gebäudesektor entstehen direkt oder indirekt etwa 20 Prozent aller CO2-Emissionen. Über klimagerechte Bauweisen ließe sich viel einsparen, gleichzeitig würde durch große Projekte das Interesse der Konsument:innen an klimafreundlichen Technologien gefördert. Bei diesem Aspekt sehen die Fachleute den Kipppunkt erreicht, wenn diejenigen Baustoffe und Technologien erste Wahl werden, die nicht auf fossilen Energiequellen basieren.
3) Finanzmärkte: Investitionen von Vermögenswerten abziehen, die mit fossilen Energieträgern in Verbindung stehen
Dass in der Finanzwelt schnelle Veränderungen mit großen Auswirkungen möglich sind, haben verschiedene Finanzkrisen gezeigt. Dabei kommt es stark darauf an, was Investor:innen denken. Das könnte für fossile Energiequellen ein Problem werden: Manche glauben bereits jetzt an eine „CO2-Blase“ – also, dass Vermögen, die auf fossile Energien bauen, irgendwann plötzlich nicht mehr attraktiv sind und damit schnell an Wert verlieren. Es könnte sogar ausreichen, wenn neun Prozent der Investor:innen ihr Vermögen von fossilen Energien abziehen, wodurch andere zügig folgen. Besonders große Effekte wären zu erwarten, wenn nationale Banken und Versicherungen vor den Risiken gestrandeter Vermögenswerte von klimaschädlichen Projekten warnen. Die Fachleute sehen in Europa sogar schon die ersten Anzeichen des Kippens, genauer gesagt weniger Unterstützung für Kohle-Projekte.
4) Normen und Werte: die moralischen Konsequenzen von fossilen Energieträgern aufzeigen
Dass veränderte Normen und Werte soziale Umschwünge bringen können, zeigt sich in historischen Beispielen. Häufig genannt wird dabei der transatlantische Sklavenhandel. Hier sieht man aber auch, wie lange solche Bewegungen brauchen, um ihre volle Kraft zu entfalten: Jahrzehnte bis Jahrhunderte.
Fachleute glauben, dass die Gesellschaft ihre moralischen Werte verändern kann, wenn die Konsequenzen der fossilen Energienutzung deutlich werden. Das Kippen wäre erreicht, wenn ein Großteil der Gesellschaft und der Meinungsführenden die ethischen Implikationen von fossilen Energien anerkennen und innerhalb ihrer Netzwerke Druck erzeugen. In Bewegungen wie Fridays For Future, Extinction Rebellion und dem Green New Deal sehen sie Anzeichen dafür, dass sich die Normen und Werte schon jetzt verändern.
5) Bildungssystem: Klimabildung und Engagement stärken
Bisher steht es Lehrenden frei, den Klimawandel im Unterricht zu thematisieren. Koordinierte Ansätze gibt es dafür nicht, entsprechend lückenhaft ist die Klimabildung bei vielen Menschen. Dabei hat sich gezeigt, dass Informationen ein wichtiges Werkzeug im Kampf gegen die globale Erwärmung sind. Eine Studie schätzt, dass in weniger als zehn Jahren durch die Massenmedien, Informationen zu nachhaltigem Verhalten und Kommunikation innerhalb der sozialen Netzwerke und Gemeinschaften etwa 20 Prozent der direkten Emissionen aus Haushalten reduziert werden könnten. Und das, ohne große Einschnitte für die einzelnen Personen. Allerdings muss Bildung mit anderen Aspekten zusammenarbeiten – reines Wissen allein hilft wenig. Es geht hierbei vor allem darum, ein Gefühl für Nachhaltigkeit zu vermitteln, sodass die Menschen von selbst den Wert einer klimafreundlichen Lebensweise erkennen, anstatt sie nur auferlegt zu bekommen.
6) Informationsfeedbacks: Informationen zu Treibhausgasemissionen offenlegen
Indem etwa Firmen ihre Treibhausgasemissionen transparent machen, könnten sie einerseits für fundierte globale, regionale und nationale Strategien sorgen, andererseits auch das Wissen der Konsumierenden stärken. Das ginge beispielsweise durch Klimafakten auf den Produkten, bei denen jeweils der CO2-Fußabdruck und andere Emissionen aufgedruckt werden. Das würde eine solidere Klimabildung ergänzen und zudem Entscheidungspersonen innerhalb der Unternehmen einen größeren Weitblick erlauben.
Artikel Abschnitt: Aber:
Aber:
Tempo noch immer zu langsam
Wandel in den Köpfen am langsamsten
Mit etwa fünf bis zehn Jahren rechnen die Forschenden beim Bau von CO2-neutralen Städten und bei der klimaneutralen Energieproduktion und -speicherung. Bis zu 30 Jahren braucht es vermutlich, um das Bildungssystem umzubauen. Am langsamsten geschieht wohl der Wandel in den Köpfen: "Werte und Normen sind sehr stabile Systeme, die nicht kurzfristig kippen. Das dauert oft ein oder zwei Generationen“, sagt Thomas Brudermann und fügt hinzu: "So lange können wir nicht warten mit der Abkehr von Konsumzentrierung und Egoismus.“ Insofern seien soziale Kipppunkte als Rettung in der Klimakrise vielleicht zu optimistisch betrachtet.
In jedem Fall braucht es eine Mischung aus möglichst vielen Elementen, die zusammenwirken, sagt auch Maria Daskalakis, Leiterin der Gruppe Umweltpolitik am Fachgebiet Wirtschaftspolitik, Innovation und Entrepreneurship am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Kassel: "Die Idee, es gäbe einige wenige soziale Kipppunkte beziehungsweise -interventionen, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte, scheint mir hier nicht zielführend.“
Menschen treffen nicht immer logische Entscheidungen
Das liegt auch daran, dass soziale Entwicklungen sich häufig schwerer vorhersagen lassen als physische. Menschen treffen nicht immer logische Entscheidungen, lassen sich von Vorurteilen beeinflussen, werden von ihren kulturellen Einflüssen geprägt, sind insgesamt sehr verschieden und verändern ihr Verhalten anhand von neuen Informationen und sozialen Aspekten. Das alles in Modellen zu berechnen und alle möglichen Interaktionen der Faktoren zu beachten, ist praktisch nicht schaffbar. Somit kann auch niemand mit Sicherheit vorhersagen, welche sozialen Maßnahmen die größten Wirkungen entfalten werden.
Und noch etwas gilt es zu bedenken: Soziale Kipppunkte geschehen nicht nur im Positiven. Darauf weisen Forschende um Pia-Johanna Schweizer, Forschungsgruppenleiterin "Systemische Risiken“ am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit, hin: In dem Kontext gehe es nicht nur um Mitigation, also das Abwenden von möglichst vielen Klimafolgeschäden, sondern auch um Anpassung. Je schwerer die Klimakrise den Menschen das Leben macht, desto eher könnten sich ungünstige Dynamiken entwickeln. Schweizer und ihr Team denken dabei etwa an Massenmigrationen, wenn Küstengegenden durch den steigenden Meeresspiegel unbewohnbar werden.
Artikel Abschnitt: Und jetzt?
Und jetzt?
Wir brauchen Motivation, um in die Gänge zu kommen
Gegennarrative und Klimaausreden kommen hoch
Allerdings nehme er gleichzeitig ein heftiges Aufflammen von Gegennarrativen und Klimaausreden wahr. Dem könnte die Politik entgegenwirken, einerseits durch finanzielle Anreize und klare Gesetze, andererseits, indem sie aufhört, mit "Technologieoffenheit“ alles zu verzögern. Oft wird etwa CCS als große Hoffnung verkauft. Dabei betonen Fachleute immer wieder, dass diese Technologie zwar notwendig sein wird, aber zum Einhalten der 1,5-Grad-Grenze in der nahen Zukunft keinen nennenswerten Beitrag leisten kann. Zumal noch Risiken ungeklärt, die Effizienz bisher unzureichend und die Kosten hoch sind.
Zudem müssten Politikerinnen und Politiker ihre Verantwortung erkennen, anstatt den Ball der Bevölkerung zuzuspielen. Thomas Brudermann sagt zu solchen Diskussionen: "Der Ball der Verantwortung wird gerne zwischen den einzelnen Gruppen hin und her gespielt – Politik, Bevölkerung, Wirtschaft. Am Ende will niemand verantwortlich sein und das bringt uns wirklich nicht weiter.“
Finanzen und Gesetze als Hebel, die Gesellschaft für die Akzeptanz
Immerhin, die Wirtschaft merkt immer mehr, dass Nachhaltigkeit abseits von Greenwashing für sie überlebensnotwendig und sogar vorteilhaft ist, um in Zukunft robust aufgestellt zu sein. Daran ändern auch Rückschritte wie das Aufweichen des Verbrenner-Aus nichts. Audi-Chef Markus Duesmann forderte etwa in der Diskussion um E-Fuels Klarheit. Eine Hängepartie sei "fatal für die Autoindustrie“.
Tatsächlich haben sich viele Automarken ohnehin festgelegt: Audi will ab 2026 nur noch neue elektrische Modelle auf den Markt bringen, Fiat und Ford wollen ab 2030 nur Autos mit elektrischen Antrieben verkaufen. Mercedes kündigt an, ab 2030 zumindest in der EU keine neuen Verbrenner mehr anzubieten, BMW hält sich bedeckt und nennt kein Datum für einen kompletten Verbrennerausstieg. Die Liste geht weiter, mit mehr oder weniger ambitionierten Zielen.
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Soziale Kipppunkte sind zu beobachten
An sozialen Veränderungen führt also kein Weg vorbei. Was derzeit auf der Welt geschieht, spricht tatsächlich für ein Kippen und somit für soziale Kipppunkte: "Wir beobachten eine zunehmende Instabilität in bestehenden sozialen Systemen und Strukturen. Unter solchen Rahmenbedingungen werden Veränderungen wahrscheinlicher“, so Brudermann.
"Ob und wohin das Pendel aber letztendlich ausschlägt, werden wir erst in ein paar Jahren wissen. Noch haben wir – die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft gemeinsam – es vielleicht in der Hand, das Pendel in eine positive Richtung zu lenken.
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Soziale Kipppunkte sind zu beobachten?Hoffe dies betrifft auch die Reduktion der Geburten,die Erhöhung der Vasektomien.Für uns ist das Klimaproblem in weiter Ferne sind beide steril Kinderfrei.
Vegan leben. Das kann jeder von uns sofort tun. Der Verzehr tierischer Produkte ist ein richtiger Klimakiller. Hier brauchen wir nicht auf die Politik warten, jeder hat es in der Hand. Wer sich dann auch noch mit der Ethik dahinter ernsthaft beschäftigt, wird sehen, dass vegan leben eigentlich schon immer… Weiterlesen »
Es ist toll, wenn Deutschland Vorreiter würde. Aber „WENN“ das klappen sollte, was ich bezweifel, wie soll man Länder wie Indien, China, Afrika, etc. dazu bringen, überhaupt erstmal über „generellen Umweltschutz“ nachzudenken, resp. das umzusetzen? Geschweige CO2-Probleme… Wer soll das finanzieren? Das wird nicht passieren, solange Kohle & Öl gefördert… Weiterlesen »
Es ist durchaus frustrierend, aber nur weil andere möglicherweise nicht mitziehen gar nicht erst anzufangen, kann noch weniger die Lösung sein.
Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich‘s Wetter oder es bleibt wie es ist!
Kipppunkte retten unser Klima nicht und wir auch nicht ….