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Tinnitus
Wenn es keine Stille mehr gibt
Wer zu häufig Dauerstress oder lauten Geräuschen ausgesetzt ist, kann leicht einen Tinnitus bekommen – viel mehr als nur ein lästiges Piepen im Ohr.
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Artikel Abschnitt: Was ist ein Tinnitus?
Was ist ein Tinnitus?
Wenn ein Tinnitus länger als drei Monate bestehen bleibt, spricht man von einem chronischen Tinnitus. Etwa 5 bis 15 Prozent aller Erwachsenen weltweit haben irgendwann länger andauernde Ohrgeräusche – bei Kindern ist Tinnitus eher selten und meist tritt er bei Menschen ab 50 Jahren auf. Rund 10 bis 20 Prozent der Menschen mit Tinnitus sind durch die Geräusche so in ihrem Alltag beeinträchtigt, dass sie therapeutische Hilfe aufsuchen müssen.
Vier Schweregrade beim Tinnitus
Die Stärke der Geräusche und wann sie für die Betroffenen mal lauter und mal leiser auftreten, ist sehr individuell. Expert:innen zum Thema unterscheiden vier Schweregrade des Tinnitus. Bei Schweregrad I und II können die Menschen mit dem Tinnitus (sehr) gut leben und ihn weitestgehend ignorieren. Betroffene mit Schweregrad III und IV sollten sich dringend medizinische Hilfe suchen.
Menschen, die stark unter Tinnitus leiden, haben häufig auch Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Manchmal führen die Ohrgeräusche auch dazu, dass die Betroffenen sich mehr zurückziehen, häufig verstimmt sind oder sogar Ängste und Depressionen entwickeln. "Das geht hin bis zur völligen Berufsunfähigkeit", sagt Birgit Mazurek, Direktorin des Tinnituszentrums an der Berliner Charité.
Subjektiver und objektiver Tinnitus
In der Medizin wird zwischen subjektivem und objektivem Tinnitus unterschieden, wobei der subjektive Tinnitus wesentlich häufiger auftritt. Bei diesem können nur die Betroffenen selbst ein Ohrgeräusch wahrnehmen und es ist von Arzt oder Ärztin nicht akustisch mit dem Stethoskop wahrnehmbar. Das liegt daran, dass er nicht auf Schallwellen beruht, sondern auf fehlerhaften Nervenaktivitäten im Gehirn.
Diese können dann allerdings per MRT festgestellt und gemessen werden (siehe Das passiert beim Tinnitus im Gehirn). Sollten andere Ursachen, wie beispielsweise Pulsgeräusche aus einem verengten Blutgefäß, die Ursache für den Tinnitus sein, sind diese teilweise auch für andere Menschen hörbar. Dann spricht man vom objektiven Tinnitus.
Artikel Abschnitt: Was sind die Ursachen eines Tinnitus?
Was sind die Ursachen eines Tinnitus?
Die zwei häufigsten Gründe für einen chronischen irreversiblen Tinnitus sind Lärm und Stress. Häufig auch beides in Kombination miteinander. Besonders Menschen, die dauerhaft lauten Tönen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel Musiker:innen oder Menschen, die auf Baustellen oder in anderer Form mit lauten Maschinen arbeiten, sind häufiger von Tinnitus betroffen.
Das Risiko ist höher, je lauter die Geräusche sind und je länger man diesen ausgesetzt ist. Im Alltag kommen sehr viele Menschen mit Ohrgeräuschen infolge von Lärm in Kontakt – beispielsweise nach einem lauten Konzert oder Feuerwerk. Allerdings verschwinden diese dann nach einiger Zeit wieder – im besten Fall.
Stress als Ursache
Beim Thema Stress kommt es darauf an, ob er als negativ (Distress) oder positiv und motivierend (Eustress) wahrgenommen wird. Distress, vor allem wenn er über einen längeren Zeitraum besteht, kann einen Tinnitus begünstigen. Bei Stress wird das Hormon Cortisol ausgeschüttet, das die Blutgefäße verengt. So kann es auch im Innenohr in den kleinsten Blutgefäßen zu Verschlüssen kommen. Wie und ob dies genau zu einem Tinnitus führt, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. In Befragungen wird aber deutlich, dass eine Mehrheit der Betroffenen angibt, den Tinnitus zum ersten Mal in einer Zeit wahrgenommen zu haben, als sie länger belastendem Stress ausgesetzt waren.
Klar ist auch, dass Stress einen schon bestehenden Tinnitus verstärkt und der Tinnitus wiederum das Stresslevel erheblich steigern kann. Daher ist eine entsprechende Therapie sehr wichtig (siehe: Wie kann ein Tinnitus behandelt werden?) Durch die Corona-Pandemie haben laut NAKO-Gesundheitsstudie viele Menschen stärker unter Stress gestanden und vermehrt Symptome von Angst, Stress und Depressionen verspürt. Dies können alles Auslöser und Verstärker eines Tinnitus sein.
Mehr dazu, wie Stress uns beeinflusst, erklären wir hier.
Soldat:innen, die im Krieg kämpfen und sowohl lauten Geräuschen, wie Explosionen oder Schüssen, als auch großen Stresssituationen ausgesetzt sind, sind durch diese Kombination besonders häufig betroffen. In den USA werden die meisten Ausgleichszahlungen an Soldat:innen wegen Tinnitus gezahlt, der zweithäufigste Grund ist Schwerhörigkeit und/oder Gehörverlust.
Artikel Abschnitt: Was passiert beim Tinnitus im Gehirn/im Körper?
Was passiert beim Tinnitus im Gehirn/im Körper?
In 95 Prozent aller Fälle gibt es eine Form von Hörverlust, die mit dem Tinnitus einhergeht. Durch laute Geräusche oder einen lauten Knall werden Sinneszellen im Ohr auf der Hörschnecke zerstört. Studien zeigen, dass Proband:innen, die dauerhaft Ohrstöpsel trugen, um einen Hörschaden zu simulieren, plötzlich auch einen Tinnitus entwickelten. Dieser verschwand allerdings wieder, sobald die Ohrstöpsel entfernt wurden.
Es gebe allerdings auch Fälle, da seien die Hörzellen zwar nicht kaputt, aber sie seien viel aktiver als im Normalzustand, sagt Birgit Mazurek. Das führe auch zu der Verstärkung der Ohrgeräusche. Und "in der klassischen Hörtestung machen wir große Sprünge – von 1000 Hertz zu 2000 Hertz. Dazwischen können auch Hörzellen geschädigt sein und das sehen wir gar nicht".
Phantomtöne bilden sich im Kopf
Eine sehr gängige Theorie, wie neben einem Gehörverlust oder Hörschaden ein Tinnitus entsteht, ist die der fehlangepassten neuronalen Plastizität des Gehirns: Wenn Hörzellen zerstört sind, können sie nicht wiederhergestellt oder repariert werden. Das bedeutet, einige Frequenzen und Töne können dann dauerhaft nicht mehr gehört werden.
Das Gehirn mag generell keine blinden Flecken und versucht daher, die fehlenden Informationen zu ersetzen. Der Bereich, in dem Frequenzen nicht mehr hörbar sind, wird vom Gehirn aktiv verstärkt. Dadurch entstehen allerdings Nebengeräusche wie ein Rauschen oder Fiepen wie bei einer Übersteuerung – also ein Tinnitus. Daher wäre es in den häufigsten Fällen von chronischem Tinnitus korrekter, von einem "Piepen im Gehirn" anstatt von einem "Piepen im Ohr" zu sprechen, da die erzeugten Töne in Wahrheit so etwas wie Phantomklänge sind.
Der Ton entsteht meist in der Hörschnecke, wird über die Hörbahn hochgeleitet, vom Gefühlszentrum des Gehirns (limbisches System) bewertet und dann ans Hörzentrum (Cortex) weitergegeben und dort abgespeichert. "Wenn einmal diese Sensation erstellt worden ist und die Abspeicherung erfolgt ist, kriegen Sie das Geräusch in der Regel nicht mehr weg", sagt Birgit Mazurek.
Besonders wichtig ist hierbei der Weg über das limbische System. Das ist der Teil im Gehirn, in dem unsere Emotionen verarbeitet werden. Hier entsteht auch der Leidensdruck vieler Patient:innen. Das Geräusch wird nämlich als negativ und störend bewertet, als etwas, das die Betroffenen einschränkt.
Im MRT ist verstärkte Nervenaktivität sichtbar
Diese Theorie sei noch nicht abschließend belegt, sie sei "abgeleitet aus tierexperimentellen Interpretationen, man kann diese schlecht am Menschen diagnostisch nachweisen", sagt Birgit Mazurek vom Tinnituszentrum. Was allerdings nachweisbar ist, ist eine erhöhte Nervenaktivität im Gehirn von Tinnnituspatient:innen. Im MRT kann man einige Bereiche im Hörzentrum sehr gut erkennen, die aktiver sind als bei Menschen ohne Tinnitus.
Artikel Abschnitt: Wie kann Tinnitus behandelt werden?
Wie kann Tinnitus behandelt werden?
Für die schwereren Fälle gibt es dazu verschiedene Therapieansätze, die die Situation für Betroffene etwas erträglicher machen können. Häufig wird mit Musik- oder Soundstimulationen gearbeitet. Für diese gebe es allerdings keine Evidenz, teilweise existiere sogar eher Evidenz dagegen, sagt Birgit Mazurek. Ebenso verhält es sich mit dem Einsatz von einigen Medikamenten gegen Tinnitus. Laut der aktuellen AWMF-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. gibt es vor allem vier evidenzbasierte Behandlungsschwerpunkte, die für Tinnituspatient:innen infrage kommen:
- Counseling (Beratung)
- tinnitusspezifische Psychotherapie
- Ausgleich des Hörverlustes (Hörsysteme wie Hörgeräte oder Cochlea-Implantat)
- Mitbehandlung von begleitenden Krankheiten wie Depressionen oder Schlafstörungen
Häufig bauen diese Therapiemöglichkeiten auch aufeinander auf. Die ausführliche Beratung ist vor allem gegen die Unsicherheit und die Angst der Patient:innen wichtig, damit sie verstehen, was genau passiert ist und was das für sie bedeutet. Im Anschluss kann die Psychotherapie, im speziellen eine Verhaltenstherapie, sehr hilfreich sein, um wieder eine bessere Lebensqualität herzustellen. Wichtig ist laut Leitlinie allerdings auch die ausdrückliche Mitarbeit des Patienten oder der Patientin. Als sinnvoll hat sich auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen erwiesen, da der Austausch mit anderen Menschen den Kontrollverlust und die Ängste, die mit Tinnitus einhergehen können, mindern.
Behandlung muss individuell erfolgen
Die Behandlung mit Hörgeräten für schwerhörige Menschen mit Tinnitus ist "eine der einfachsten Methoden", sagt Birgit Mazurek. Allerdings reicht das oft nicht, um den Menschen komplett von seinem Leiden zu befreien. Abends würde der Patient ja das Hörgerät herausnehmen und dann sei der Tinnitus wieder hörbar. "Und weil er nicht schlafen kann, kann er seine Arbeit nicht machen und fühlt sich noch mehr belastet und dann wird das immer schlimmer", erklärt die Direktorin.
Wichtig ist vor allem, dass mögliche Behandlungsmethoden immer mit dem Patienten oder der Patientin gemeinsam besprochen werden, denn sowohl der Leidensdruck als auch die individuelle Situation der Betroffenen kann sehr unterschiedlich sein. Das gilt vor allem für die Mitbehandlung von begleitenden Krankheiten wie Depressionen, da dabei auch Psychopharmaka zum Einsatz kommen können. Was für manche Patient:innen funktioniert, kann für andere schwere Nebenwirkungen und unerwünschte Effekte haben.
Artikel Abschnitt: Wie kann Tinnitus verhindert werden?
Wie kann Tinnitus verhindert werden?
Tendenziell nehmen Hörprobleme immer mehr zu, weil wir im Alltag weiter Lärm ausgesetzt sind, ob vom Verkehr oder der Industrie.
Warum Verkehrsalarm so schädlich für uns ist, erklären wir hier.
Damit einher gehen auch Probleme wie Hörsturz oder Tinnitus. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt in ihrem ersten World Hearing Report 2021, dass bis 2050 jeder vierte Mensch weltweit Hörprobleme haben wird. Aktuell leiden bereits 1,5 Milliarden Menschen unter solchen Problemen. "Dazu kommt: Wir werden alle älter, der Stress nimmt zu, und dann auch noch die ständige Lärmberieselung", sagt Birgit Mazurek vom Tinnituszentrum der Charité.
Daher sei Prävention auch sehr wichtig. In Berlin gibt es dafür die Stiftung Tinnitus und Hören, ebenfalls angesiedelt an der Charité. Dort werden Kinder und Jugendliche schon früh über die Risiken von lauter Musik oder Geräuschen aufgeklärt. Die Stiftung schickt auch regelmäßig Botschafter:innen auf Musikfestivals, um dort die Besucher:innen mit Gehörschutz auszustatten und ihnen zu erklären, wie sie ihre Ohren und somit ihr Gehör besser schützen können.
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Quellenangaben zum Artikel:
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sparen sie sich den Gang zum „Facharzt“ der kann ihnen weder helfen noch lohnt sich ein Gespräch. hab so Geräusche schon seit 45 Jahren. Surren, Pfeiffen und manchmal auch Knurren. dazu kommt dann noch Pochen. dann aber ist der Blutdruck zu hoch. nix, aber auch gar nix hat auch nur… Weiterlesen »
Ich leide seit fast 20 Jahren an Tinnitus, ein permanent vorhandener hoher Fiebton, der bei Stille von MInute zu MInute lauter wird und einem kontinuierlich den Verstand raubt.
Das einzige Was mir dagegen hilft:
Medizinisches Cannabis
Liebes Team von Quarks,
Könnt ihr vielleicht mal einen ähnlichen Artikel zur Hyperakusis, akustische Überempfindlichkeit, veröffentlichen?
Florian
Tinnitus entsteht im Kopf und nicht im Ohr. Ich lebe seit 22 Jahren mit einem massiven Tinnitus, der bei mir von der Halswirbelsäule kommt. Seit einem Unfall sind die Halswirbel permanent verdreht. Ich finde es unfassbar, dass ein Tinnitus von eingeklemmten Nerven in der HWS heutzutage immer noch als „umstritten“… Weiterlesen »
…und wieder einer, der meint, dass es nur die eine Wahrheit gibt. Obwohl der Bericht so ausführlich gut grschrieben ist….
Ich höre seit einem halben Jahr ein ständiges hohes Fiepen, von dem ich dachte, es sei ein „Tinnitus“. Die Untersuchung beim HNO ergab keinerlei Hinweise darauf, dass dieses Geräusch aus dem Ohr kommt, dort sei alles in Ordnung. Gleichwohl gestand man mir zu, ein Geräusch zu hören. . . .… Weiterlesen »
Der HNO hat keine Ahnung. Wenn er nur bis 8 kHz messen kann und deine Hörminderung bei 10kHz liegt z.B.