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Gender-Data-Gap
Warum Frauen medizinisch benachteiligt sind
Fast immer wurden Medikamente gleichermaßen für Männer und Frauen verschrieben. Nun aber weiß man: Je nach Geschlecht braucht es andere Dosen. Für Frauen hat das mitunter fatale Folgen. Das Umdenken kommt spät.
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Medizinische Ergebnisse gelten oft nur für Männer
Stechen in der Brust, das in den linken Arm strahlt. Bei den meisten Ärzten und Menschen schrillen jetzt die Alarmglocken: Herzinfarkt, ab ins Krankenhaus. Das ist genau richtig. Seit den 80ern ist die Überlebenswahrscheinlichkeit von Männern nach einem Herzinfarkt und anderen Herz-Kreislauf-Problemen gestiegen. Bei Frauen stieg sie noch 20 weitere Jahre an und liegt noch immer höher. Doch das System hatte die größte Zeit über einen Fehler. Die Symptombeschreibung für einen Herzinfarkt traf nur auf Männer zu. Dies ist nur ein Beispiel. In vielen medizinischen Bereichen gibt es weniger Daten zu Frauen als zu Männern. Diese Datenlücke wird als "Gender-Data-Gap“ bezeichnet.
Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
Falsche Dosierung ist gesundheitsschädlich oder lebensgefährlich
Herzinfarkte sind ein Beispiel von vielen medizinischen Themen, bei denen Frauen benachteiligt sind. Das Problem: Es hat jahrzehntelang keine oder zu wenige medizinische Untersuchungen mit Probandinnen gegeben. Und auch beim Thema Medikamente fehlen häufig ausreichende Daten zur Dosis-Wirkung-Beziehung und Nebenwirkungen bei Frauen. Viele Beipackzettel basieren einzig darauf, dass man die Mittel ausschließlich oder vor allem an Männern getestet hat. Das hat historische und praktische Gründe – Studien an Männern waren und sind einfacher und über Jahrzehnte die erste Wahl. Aber dazu später mehr.
Dabei kann man von einem Geschlecht nicht auf das andere schließen. Eine Studie zur Wirksamkeit von Digoxin, einem Wirkstoff bei Herz-Kreislauf-Beschwerden, vermerkt etwa: Es verkürzt das Leben von Frauen, nicht aber das der Männer. Denn es geht im Körper der beiden Geschlechter unterschiedlich zu und das bestimmt, wie das Medikament wirkt.
Medikamente wirken bei Männern und Frauen unterschiedlich
Dass Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken, hat mit den Geschlechtschromosomen (Mann: XY, Frau: XX) zu tun. Sie bestimmen maßgeblich:
- Herz-Kreislauf-System
- Stoffwechsel und Verdauung
- Körperzusammensetzung (vor allem Fett- und Muskelanteil)
- Immunsystem
Stoffwechsel, Verdauung und Körperzusammensetzung beeinflussen maßgeblich die sogenannte Pharmakokinetik, also etwa die Zeit, in der der Körper eine gewisse Menge an Wirkstoffen verarbeitet. Das Antidepressivum Fluvoxamin beispielsweise führt bei derselben Dosis bei Frauen zu einem 70 bis 100 Prozent höheren Blutspiegel. Die Gefahr einer Überdosierung ist hoch.
Für ein ähnliches Beruhigungsmittel stellten Forschende vor Jahren fest, dass es das Leben der Frauen verkürzte, nicht aber bei Männern. Die US-Arzneimittelbehörde musste die Dosis für Frauen nachträglich auf die Hälfte senken.
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Seit den 90ern müssen Medikamente auch bei Frauen getestet werden
Bis in die 90er-Jahre war es so: Was die Studien an der Mehrheit der Männer herausfanden, wurde später praktischer medizinischer Alltag: Frauen bekamen dieselbe Dosis wie Männer. Im schlimmsten Fall endete das tödlich.
Erst seit 1994 existiert etwa eine US-Richtlinie, die verlangt, dass Medikamente in klinischen Studien auch an Probandinnen getestet werden müssen. Und trotzdem: Heute, 25 Jahre später, besteht das Problem immer noch. Das Geschlechterverhältnis stimmt nicht.
Der Frauenanteil ist gestiegen
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller beziffert den Anteil von Probandinnen in frühen klinischen Studien der Phase I auf 10 bis 40 Prozent, in Phase II und III auf 30 bis 80 Prozent. In Studien zu Herz-Kreislauf-Medikamenten machen Frauen nur ein Drittel der Teilnehmenden aus. Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen anteilig doppelt so viele Frauen hätten getestet werden müssen.
Doch es gibt noch ein weiteres Versäumnis: In bis zu einem Fünftel aller untersuchten Arbeiten werden die Geschlechterunterschiede gar nicht untersucht oder erwähnt. Die Wirksamkeit je nach Geschlecht lässt sich daher nur schwer prüfen.
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In Studien werden Frauen immer häufiger berücksichtigt
- Unterschied vor und nach den Wechseljahren
- Unterschiede durch Zyklus und Verhütungsmittel
- Schwangerschaften
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Der Contergan-Skandal aus den 50er-Jahren hallt noch immer nach. Die sich häufenden Fehlgeburten ließen richtigerweise eine Skepsis daran aufkommen, schwangeren Frauen neue Wirkstoffe zu verabreichen.
Außerdem können hormonelle Schwankungen dazu führen, dass die Ergebnisse nicht mehr untereinander vergleichbar sind. Vielmehr gibt es unter den Frauen noch weitere Subgruppen, die getestet werden müssen. Das ist letztlich auch sinnvoll, schließlich könnten die meisten Medikamente für alle diese Patientengruppen zur Verfügung stehen. Allerdings braucht es dann mehr Probandinnen in den klinischen Studien, um die Wirksamkeit oder Harmlosigkeit nachzuweisen.
Es geht nicht um eine 50:50-Verteilung
Fälschlicherweise wird die Diskussion um die "Gender-Data-Gap“ mit der Frauenquote verglichen, als gehe es auch in medizinischen Studien darum, ein gleiches Geschlechterverhältnis herzustellen. Es kommt hier allerdings nicht immer darauf an, dass 50 Prozent Frauen und 50 Prozent Männer eingebunden werden müssen. Das Verhältnis sollte sich vielmehr an der tatsächlichen Geschlechterverteilung der Krankheiten orientieren. Am Ende ist entscheidend, wie häufig die Geschlechter unter der spezifischen Krankheit leiden – egal ob Frauen oder Männer 10, 20 oder 70 Prozent ausmachen.
Medizinisch sind die Diagnosen bei Mann und Frau zum Teil sehr unterschiedlich verteilt. Frauen leiden überproportional häufig an Kniegelenksarthrose, an Autoimmunerkrankungen oder Schilddrüsenproblemen. Aber auch sie werden von Herz-Kreislauf-Problemen nicht verschont und gerade nach den Wechseljahren steigt das Risiko stark an. Eine ausgewogene Verteilung macht für viele Krankheiten auch gar keinen Sinn, etwa Brust- oder Prostatakrebs.
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Eine falsche Geschlechterverteilung könnte wiederum genau dazu führen, was derzeit das Problem ist: Ergebnisse, die mehrheitlich auf den Daten von einem Geschlecht beruhen, könnten für das andere völlig irrelevant oder sogar gefährlich sein.
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Und jetzt?
Gendermedizin hilft auch Männern
Doch die Politik hat in den letzten Jahren bereits reagiert. Eine neue EU-Richtlinie schreibt vor, die Geschlechterverteilung in klinischen Studien danach zu beurteilen, inwiefern sie die tatsächlich zu behandelnden Subgruppen in der Bevölkerung abbildet. Soll heißen: Richtet sich das Medikament vor allem an Frauen, sollen auch vor allem Frauen getestet werden.
Kleinere Gruppen, mehr Unterscheidungen, bessere Daten
Die Formulierung macht es sogar noch effektiver, denn richtet sich das Medikament vor allem an Frauen nach der Menopause, sollten auch vor allem sie getestet werden. Die Forschung wird dadurch komplexer, komplizierter und kostenintensiver. Letztlich liefert das aber bessere Daten – für beide Geschlechter.
Außerdem: Ein Statement des Verbands forschender Arzneimittelunternehmen stellt fest, dass bis 2023 mehr Medikamente klinisch getestet werden, die sich ausschließlich an Frauen richten, als es solche gibt, die für Männer entwickelt werden. Es gab ja auch Nachholbedarf.
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Quellenangaben zum Artikel:
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Artikel Überschrift:
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6755854/pdf/JAH3-8-e012307.pdf
Pflegen Sie doch mal diese Publikation mit ein. Hier wird beschrieben, dass das Beispiel Herzattacke ein falsches ist, da wohl eher Männer unter Symptommangel leiden. Ansonsten sind klassische Symptome bei Männern und Frauen vorhanden. Nicht so wie Sie behaupten nur bei Männern.
Wir schauen uns das an.
Was mich ja interessieren würde: wenn früher Probanden fast ausschließlich biologisch männlich waren, wie wurden Medikamente getestet die eigentlich ausschließlich für Frauen bestimmt waren, wie bspw. die Pille oder so?
Wir schreiben ja, dass die Medizinische Ergebnisse häufig nur für Männer gelten. Bei Medikamenten, die ausschließlich für Frauen bestimmt sind, trifft das natürlich nicht zu 😉
Super wichtiges Thema! Und in diesem Zusammenhang ein Doku-Tipp: Die Kolleg*innen von MDR WISSEN haben zum Thema Gendermedizin eine – meiner Meinung nach – sehr erhellende Film-Reihe produziert. https://1.ard.de/Doku_toedlicherUnterschied
Dass Frauen weniger in Studien untersucht wurden ist ein Mythos, den auch der US Congress unterlag. Eine systematische Untersuchung 2001 zeigte das Gegenteil:
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11018563/
https://www.openpetition.de/petition/online/medical-justice-now-genderhealthgap-petition