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Pandemie
Warum die Herdenimmunität unrealistisch ist
Mit der Impfung endet Corona – so hieß es. Doch das Konzept der Herdenimmunität wankt.
Wir erklären, was möglich ist.
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Artikel Abschnitt: Darum geht’s:
Darum geht’s:
Die Impfung soll Herdenimmunität bringen
Tatsächlich sah es anfangs vielversprechend aus, gerade in Israel, wo die Impfkampagne besonders schnell voran ging. Die Fallzahlen sanken, die Todesfälle fielen auf null. Die Hoffnungen, die auf den Impfstoff gesetzt werden, sind weiterhin hoch, aber die Erwartungen an ihn als einzige Maßnahme überhöht.
Lange hieß es, knapp zwei Drittel der Bevölkerung müssten immun sein – durch eine Impfung oder eine natürliche Infektion. Die magische Schwelle, aber der das Virus immer häufiger auf Menschen träfe, die sich nicht mehr anstecken können. Es würde in eine Sackgasse laufen und könnte sich nicht mehr exponentiell verbreiten. Soweit die Theorie. Doch es gibt eine Menge praktische Probleme. Nicht nur in Israel, auch in vielen anderen Ländern steigen trotz hoher Impfquote die Infektionszahlen. Wurde nur zu wenig geimpft oder ist der Impfstoff nicht so wirksam wie gedacht? Welche Rolle spielt die Delta-Variante?
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Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
In der Praxis funktioniert Herdenimmunität nicht so einfach
Diese Formel gibt an, wie viele Menschen gegen das Virus immun sein müssen, damit eine Herdenimmunität eintritt und sich der Erreger nicht mehr exponentiell weiterverbreiten kann.
Die einzige Variable ist die sogenannte Basisreproduktionszahl (R0). Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ohne die derzeitigen Maßnahmen ansteckt. Mit Maßnahmen ist die effektive Reproduktionszahl niedriger, je nach Verhalten kann sie aber auch viel höher liegen. Die Beobachtungen und abgeleiteten Schätzungen dazu gehen weltweit stark auseinander.
Das RKI ging bis Jahresanfang von 3,3 bis 3,8 als realistische Spanne für die Basisreproduktionszahl aus. Setzt man den konservativen Wert 3,3 in die Formel ein, dann läge eine Herdenimmunität vor, wenn rund 70 Prozent immun wären – egal ob durch Impfung oder eine ausreichende Immunreaktion infolge einer durchstandenen Infektion.
Wann erreichen wir die Herdenimmunität?
Wann wir die Herdenimmunität erreichen, hängt von mehreren Faktoren ab, etwa:
- Wie groß ist die Basisreproduktionszahl R0?
- Wie groß ist die Bevölkerung?
- Wie schnell wird geimpft (Impfungen pro Tag)?
- Wie sehr schützt die Impfung davor, das Virus weiterzugeben?
- Wie viele Immune gibt es bereits (natürliche Immunität)?
- Wie viele Impfdosen braucht man für den Impfschutz?
- Wie lange hält die Immunität (unbekannt, vermutlich länger als acht Monate)?
- Welche Rolle spielen Super-Spreading-Events für die Verbreitung (Dispersionsfaktor)?
Wenn man von einer benötigten Herdenimmunität von 70 Prozent ausgeht, bedeutet das, dass man rund 58 Millionen immune Menschen in Deutschland bräuchte. Diese Schwelle hat Deutschland im Herbst 2021 laut Impf-Meldungen und Genesenen-Statistik erreicht – einen Schutzeffekt im Sinne dieses klassischen Konzepts der Herdenimmunität aber gibt es nicht.
Was der Herdenimmunität im Weg steht
Denn es gibt einige Faktoren, die eine Herdenimmunität in der Praxis erschweren.
Zwei Faktoren verringern die Zahl der Menschen, die geimpft werden können:
- Menschen, die sich (noch) nicht impfen lassen können oder sollen, etwa aus gesundheitlichen Gründen oder Kinder unter 12
- Menschen, die eine Impfung ablehnen
Der zweite Punkt ist nicht erst seit Beginn der Pandemie ein hitziges Streitthema. Kurzum: Ein Teil der Gesellschaft lehnt Impfungen generell ab, ein weiterer Teil hat während der Pandemie eine Skepsis entwickelt.
Warum in Rekordzeit entwickelte Impfstoffe trotzdem sicher sein können, haben wir hier erklärt.
Die Impfbereitschaft ist stark altersabhängig. Je höher das individuelle Risiko für einen schweren Verlauf, desto größer ist meist auch die Impfbereitschaft. Bei den über 60 Jährigen sind etwa 85 Prozent geimpft. Diese Gruppen machen in der demografischen Übersicht auch einen größeren Teil der Bevölkerung aus.
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Sterile Immunität: Geben Geimpfte das Virus weiter?
- weniger effektive Impfungen, die die Übertragung nicht oder nur mäßig verringern
- lockere Maßnahmen und infektiösere Varianten erhöhen die Reproduktionszahl
In den Zulassungsstudien wurde vor allem untersucht, ob die Impfungen die Erkrankung verhindern, also das Auftreten von Symptomen. Das tun die Impfstoffe zuverlässig. Die Zulassungsbehörden geben das mit den Wirksamkeiten von rund 60 bis 95 Prozent an.
Für die Herdenimmunität ist aber nicht das Vermeiden einer symptomatischen Erkrankung relevant, sondern die Ausbreitung der Infektionen. Vermutlich kann sich das Coronavirus auch bei einem Teil der Geimpften auf der Schleimhaut niederlassen und sich auf andere Menschen übertragen.
Die Impfung schützt nicht zu 100 Prozent vor Infektionen. Stattdessen zeigen Beobachtungen aus vielen Ländern, dass es zu Impfdurchbrüchen kommt und auch Geimpfte das Coronavirus weitergeben können.
In einer systematischen US-Studie etwa reduzierten die mRNA-Impfstoffe die Infektionen um 80 Prozent, zuletzt wurden für mRNA-Impfstoffe Werte von 90 Prozent genannt. Diesen Wert nennen wir hier Impfeffizienz.
Mit der unvollständigen Impfeffizienz kommt eine weitere Variable in die Formel. Sobald dieser Wert kleiner ist als der Wert der Herdenimmunität, ist Herdenimmunität unmöglich.
In der ursprünglichen Rechnung, in der Herdenimmunität ab etwa zwei Dritteln immuner Bevölkerung vorliegt, müssten Impfstoffe das Virus zu 100 Prozent an der Verbreitung hindern. Geht man (optimistisch) von 90 Prozent aus, müssten statt 67 Prozent bereits 78 Prozent der Bevölkerung immun werden, damit es zur klassischen Herdenimmunität kommt.
Ohne immune Kinder (13 Prozent der Bevölkerung) oder mit einer hohen Impfskepsis wäre das praktisch nicht erreichbar. Heißt: Die Impfung der Erwachsenen allein würde nicht zu einer klassischen Herdenimmunität führen. Die fehlende Immunität müsste über Durchseuchung stattfinden, also durch natürliche Infektionen.
Trotzdem sind Impfungen sinnvoll – dazu später mehr. Denn die schon jetzt ernüchternde Rechnung ist noch nicht zu Ende.
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Mutationen sorgen für weitere Probleme
Was ihr zu den neuen Mutationen wissen müsst, erklären wir hier.
Varianten mit höherer Übertragbarkeit
Relevant sind Varianten deshalb, weil die Mutationen erstens am Spike-Protein sitzen und damit an der Virusstruktur, die für das Andocken und Eindringen in die Zelle verantwortlich ist. Zweitens haben Wissenschaftler beobachtet, dass sich die Verbreitung der Viren verändert hat, die Varianten verbreiten sich leichter – zwischen 30 und 120 Prozent.
Der Zwischenstand:
Die erhöhte Verbreitung ändert die Basisreproduktionszahl in der Formel: Aus 3,3 wurden bei der Alpha-Variante 4,3 (+30 Prozent) oder 5,2 (+56 Prozent). Bei der Delta-Variante wird teilweise ein R0-Wert von 6 bis 9 angegeben. Und selbst, wenn der Wert unter sechs läge: Mit Impfungen, die zu 90 Prozent vor Infektionen schützen, bräuchte es schon eine zu 90 Prozent immune Bevölkerung — mit der Impfung allein kaum zu erreichen.
Hinzu kommt, dass der Schutz vor Infektion maßgeblich mit neutralisierenden Antikörpern in den Schleimhäuten zu tun hat. Sie können das Virus als Erste daran hindern, sich in menschlichen Zellen zu vermehren. Dieser Schutz tritt auch nach der Impfung auf, allerdings ist dieser besonders kurzlebig. Stattdessen sinken diese speziellen Antikörperlevel nach wenigen Wochen wieder ab. Der Schutz vor schweren Verläufen bleibt hingegen länger bestehen.
Für das Infektionsgeschehen bedeutet das allerdings: Es nimmt mit der Zeit wieder an Fahrt auf.
Artikel Abschnitt: Aber:
Aber:
Die Impfungen entspannen die Situation
Wie Corona von der Pandemie in die Endemie übergeht, erklären wir hier.
Die Probleme sind aber nicht vom Tisch, nur weil in Deutschland die Hochrisikogruppe dank der Impfungen nicht mehr so häufig an den Folgen einer Corona-Infektion verstirbt. Statt von "absoluter Herdenimmunität" ist es sinnvoller, von einem Herdeneffekt zu sprechen. Denn die Impfungen können sehr wohl helfen, das Infektionsgeschehen etwas zu beruhigen.
Trotzdem gibt es durch die Kombination aus großen Bevölkerungsteilen ohne Immunität und der nachlassenden Immunität insbesondere unter Älteren weiterhin genügend Ansteckungspotential. Es beginnt eine neue Phase.
Weitere Angaben zum Artikel:
Die Illusion der natürlichen Herdenimmunität
Tatsächlich hat es allerdings bisher nirgends funktioniert, die Bevölkerung zu durchseuchen, ohne erstens auch Infektionen in die alten Altersgruppen zu tragen und zweitens die Intensivstationen zu überlasten. Die natürliche Herdenimmunität hätte viele Menschenleben gekostet.
Immunität hält nicht ein Leben lang
Zu bedenken ist auch, dass es bei respiratorischen Viruserkrankungen bislang nicht zu einer stabilen, natürlichen Herdenimmunität gekommen ist. Solche Viren, wie etwa die saisonal auftretenden Coronaviren, überlisten das Immunsystem nach einer Zeit – nachdem der Immunschutz von Genesenen zurückgeht.
Wie lange wir immun sind, erklären wir hier.
So könnte es immer wieder zu neuen Ausbruchswellen kommen und immer wieder wären Risikogruppen gefährdet.
Artikel Abschnitt: Und jetzt?
Und jetzt?
Corona hat kein Ende – die Bedrohung bald schon
Eine Normalität wie vor der Pandemie stellt die Impfung allein aber nicht her. Auch deshalb nicht, weil das Coronavirus als noch unbekannte Variable in den kommenden Jahren die Grippesaison beeinflusst und das Gesundheitssystem herausfordern wird.
1. Hohe Corona-Zahlen bei jungen Menschen nicht folgenlos
Sobald die kritischen Krankheitsverläufe abnehmen, sind Lockerungen einfacher umzusetzen. Wenn es für das Virus wieder deutlich leichter wird, sich zu verbreiten, dann wird das auch passieren. Eine mögliche Folge wäre eine rasche Durchseuchung der jüngeren und (noch) ungeimpften Bevölkerungsgruppen – die größtenteils einen milden Krankheitsverlauf haben.
Hohe Inzidenzen in diesen Gruppen können potentiell zu kurzfristiger oder lokaler Überlastung etwa der Kinderkrankenhäuser führen. Unklar ist ebenfalls, welche Auswirkungen die Infektionen langfristig auf die Gesundheit haben. Covid-19 galt und gilt in vielen Augen noch als Atemwegserkrankung. Tatsächlich greift das Virus sehr schnell, vermutlich auch bei milden Verläufen, auf die Blutgefäße über. Das Herz-Kreislaufsystem könnte davon betroffen sein. Ob oder welche klinischen Folgen das hat, ist noch nicht untersucht. Auch das Thema Long Covid, auch bei Kindern, ist noch nicht ausreichend untersucht.
2. Viele Infektionen führen zu Mutationen
Je weniger Infektionen es gibt, desto unwahrscheinlicher werden auch neue Mutationen, gegen die Impfungen weniger bis gar nicht anschlagen und gegen die auch eine vorherige Infektion nicht mehr schützt.
Mit solchen Varianten ginge das Ringen um Pandemie oder Alltag womöglich in eine neue Runde. Die Beta-, Gamma- und Delta-Variante zeigen sogenannte Escape-Mutation. Mit ihr kann das Virus dem Immunsystem teilweise entkommen.
Wie gefährlich die Ominkron-Variante ist, erklären wir hier.
Eine nachträgliche Booster-Impfung könnte dann wieder einen hohen Impfschutz herstellen. Womöglich ist auch ein Dreifach-Impfschema gegen das Coronavirus sinnvoll.
3. Langzeit-Plan: niedrige Fallzahlen, hohes Impftempo weltweit
Es spielt keine Rolle, ob die Mutationen hier in Deutschland oder in einem Hotspot am anderen der Welt entstehen. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie muss man sich nur kurz vor Augen führen, wie womöglich ein einfacher Markt im chinesischen Wuhan die Welt für mehr als ein Jahr schon völlig verändert hat. Der Kampf gegen das Virus wird daher ein langer und mühsamer.
Zusammen mit einem hohem Impftempo und einer sinnvollen, globalen Verteilung der Impfstoffe ließe sich das Risiko für Mutationen weltweit senken.
Am Ende wird das Coronavirus “endemisch”
Das Coronavirus könnte nun in eine neue Phase übergehen: von der Pandemie in die Endemie. Das bedeutet schlicht, dass die Bevölkerung nun eine gewisse Immunität mitbringt, die meisten dank der Impfung.
SARS-CoV-2 würde sich damit einreihen in die Gruppe der saisonalen, humanen Coronaviren wie OC43 oder HKU1. Noch sind aber viele Fragen offen: Wie stark werden diese Wellen verlaufen? Wie setzt man die Impfstoffe weiterhin ein? Welche Folgen hat ein zusätzliches Virus für das Gesundheitssystem? Das wird sich zeigen, denn sicher ist nur: eine Herdenimmunität, die das Virus verdrängt, wird es nicht geben.
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Meine Erfahrungen zum Thema Corona sind andere. Ich bin kein Impfgegner und kein Coronaleugner! Aber dieser Impfung stand ich von Anfang an kritisch gegenüber. Und das war gut so! In meinem gesamten Umfeld (Kollegen, Sportverein, Freundeskreis, Nachbarschaft) kenne ich niemanden der schwer an Corona erkrankt war, an Long Covid leidet… Weiterlesen »
Könntest du deine geäußerte Kritik am Gesundheitsminister, insbesondere bzgl. Referenzen, Professur, Eignung etc., mit ein paar Links belegen? Ohne das erscheint die Kritik recht tendenziös.
Guter Artikel – nur bei folgendem Abschnitt musste ich lachen:
„[…] wie womöglich ein einfacher Markt im chinesischen Wuhan […]“
Das mittlerweile nahezu alles für ein „Lab Leak“ spricht, sollte klar sein.
Ich sage nur „Einhorn Metapher“ und „Fauci Emails“.
Die folgende Behauptung ist nicht wahr: „Hohe Inzidenzen in diesen Gruppen können potentiell zu kurzfristiger oder lokaler Überlastung etwa der Kinderkrankenhäuser führen. “ @Quarks: bitte ändert diese Aussage! Laut DIVI-Intensivregister ist die Anzahl an Corona-Patienten in den Kinderkliniken selbst bei der aktuellen Inzidenz von 1000 (bei Kindern) verschwindend gering. Quelle:… Weiterlesen »
Ich denke auch, dass die Impfungen nichts – oder nicht viel – bringen. Selbst wenn Deutschland zu 100% geimpft sein würde und niemand mehr herein und heraus dürfte, würde es noch lange dauern, bis das Virus „aufgeben“ würde. Das einzige Mittel ist die Einhaltung der Schutzmaßnahmen. Masken, Desinfektion und Kontaktbeschränkung.… Weiterlesen »
Das merkt man, dienn mit den Fakten hat dies wenig zu tun. Genau das Gegenteil von dem, was Sie meinen, ist zielführend.: Wir brauchen eine schenlle Druchseuchung, un Herdenimmunität aufzubauen. „Schutzmßanhmen“ sind da total kontraoproduktiv.
Doch machen Sie sich nichts daraus. Selbst hochbezahlte Wissenschaftler sind Ihrer Meinung.
Bei der „Durchseuchung“ würden sehr viele Menschen sterben, nicht zuletzt, weil nicht alle optimal medizinisch versorgt werden könnten.
Nach der obigen Formel konnte sich schon spätestens nach auftreten der Deta-Variante jeder der Mathamatik nicht schon in der 4. Klasse abgewählt hat ausrechnen, dass bei einer Wirksamkeit der Impfung von max. 96% (je nach Impfstoff) eine Herdenimmunität nichtmehr erreichbar war. R0 Wildvariante 3-3,5 (Angabe RKI), wir sagen 3, britische… Weiterlesen »
Das klingt alles nachvollziehbar ja das unterschiedliche Auslaufdatum der unterschiedlichen Impftermine funktioniert nicht. Es vermischt sich zu sehr. Danke für den Kommentar.